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Ein wenig Geschichte

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Ein wenig Geschichte

988 bis 1916

Während der ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung hatten sich die Kelten am Ufer des River Liffey niedergelassen, gerade dort, wo sie den Fluß am besten überqueren konnten, und tauften ihre Siedlung daher Baile Atha Cliath, was soviel bedeutet wie »Die umhegte Stadt an der Furt«. Duh Linn, »Schwarzes Meer«, bezeichnete zunächst wohl nur das Stadtviertel, dessen Namen von der Schwärze des Wassers in der Flußmündung abgeleitet war. Im 9. Jh. fielen die Wikinger ein und errichteten eine mächtige Festung. Übrigens haben die Stadtväter auf der Suche nach dem genauen Gründungsjahr der Siedlung deswegen das Jahr 988 ausgewählt, weil zu dem Zeitpunkt nachweislich die ersten Steuern entrichtet wurden.

Anno 1170 fiel Dublin in die Hände der Normannen, die für die Entstehung der Stadtbefestigung und einer trutzigen Burg sorgten. Heute sind davon noch ein Turm und die Stadtmauerreste erhalten. Von dieser Zeit bis 1921 galt die Stadt stets als Symbol britischer Vorherrschaft. Zur Kapitale wurde sie jedoch erst im 18. Jh. auserkoren. Die Vernichtungsfeldzüge Cromwells und die jakobitischen Kriege hatten die Stadt in weiten Teilen zerstört und in wachsender Verarmung zurückgelassen. Doch dann nahm der Seehandel seinen Aufschwung. Die Ausbeutung der irischen Landbevölkerung ermöglichte es einer kleinen protestantischen Oberschicht, beträchtlichen Reichtum anzuhäufen. Welch Glück für den heutigen Besucher, dass sie ihr Geld auch in Kultur und Architektur der Stadt anlegte. So entstanden reihenweise Repräsentationsbauten und elegante Villen mit schmucken Gärten. Nachdem das irische Parlament 1782 für unabhängig erklärt worden war, erreichte Dublin den Höhepunkt seiner Macht und Glanzzeit. Sobald das Parlament nach dem Aufstand der »United Irishmen« von 1800 wieder an die britische Leine gelegt wurde, ging es mit Pracht und Wohlstand bergab. Das lag nicht zuletzt daran, dass zahllose Grundbesitzer, die Vertreter der Ascendancy und andere einflußreiche Leute ihrer Heimat den Rücken kehrten, um sich in London niederzulassen. Zurück blieben die Massen der verarmten Bauern; der Verfallsprozeß der weltstädtischen Aura Dublins hatte begonnen.

Während der Industriellen Revolution grassierte das Proletarierelend wie in kaum einer anderen von der Umwälzung betroffenen Stadt Europas. Um die Jahrhundertwende zählten Dublins Arbeiter zu den Ärmsten der Armen. Der große Generalstreik, welcher 1913 ausbrach und sechs Monate andauerte, war die logische Folge der Versorgungsmisere. Nirgends kletterte die Quote an Tuberkulosekranken höher als hier. Nachdem sich auch Parnell, auf den die gebeutelten Iren ihre ganze Hoffnung gesetzt hatten, als Enttäuschung erwies, machte sich unter der Bevölkerung Mutlosigkeit breit. Dublin schien auf dem besten Wege, widerstandslos zu einer britischen Kolonie ohne eigenen Willen abzusinken. Aber nein! Ende des 19. Jhs entwickelten sich die Kulturschaffenden zur Hefe, welche die Stimmung unter den Iren wieder zum Gären brachte. Um Lady Gregory und Yeats scharrten sich die Anhänger der gälischen Kultur, die für ihren Erhalt und Fortführung eintreten wollten. Ein wichtiges Ereignis war dabei die Gründung des Abbey Theatre. Eines von Yeats´ Stücken, »Cathleen ni Houlihan«, rührte ganz Dublin zu Tränen. In der Folge setzten auch die politischen Aktivitäten wieder ein; beispielsweise wurde der Sinn-Fein-Verband gegründet. Auf diesem kulturellen und politischen Nährboden gediehen die Wurzeln des brisanten Osteraufstands von 1916, in dessen Verlauf die Republik ausgerufen wurde.



Entwicklung im zwanzigsten Jahrhundert

Irische Originalität

Seit 1921 bis in die siebziger Jahre hat sich das Stadtbild nur wenig verändert, so dass man sich als Besucher an manchen Stellen ins vorige Jahrhundert zurückversetzt fühlt. Während die alten Häuser immer baufälliger wurden, bis sie schließlich hier und da ganz zusammenbrachen, sprossen aus ihrer Mitte nur wenige Neubauten. Viele Arbeiterbehausungen mußten großen Parkplätzen weichen, weil für andere Bauten einfach die Mittel fehlten. Dublin ist nicht New York, und die Dollar fließen bei weitem nicht so reichlich wie in den Staaten. Auch wenn profitgierige Geschäftsleute bereits ein Auge auf Irlands Kapitale geworfen haben, sind Grundstückspekulationen noch keineswegs so selbstverständlich wie in anderen europäischen Metropolen. Ein paar Jährchen wird es uns also noch vergönnt sein, auf den Spuren der Vergangenheit zu wandeln und neben anderen die ursprüngliche irische Lebensweise zu erfahren. Die einen berührt die Entwicklung nicht, da sie sorglos in den Tag hineinleben, andere wiederum versuchen, sich ihre irische Originalität zu erhalten, auch wenn sie sich schwertun, den europäischen Normen ihre Individualität entgegenzusetzen, und wieder andere freilich setzen voll auf die Karte des angepaßten Modernismus, ohne Rücksicht auf die Seele der Stadt.

Selbstverständlich lebt die Atmosphäre der Stadt nur durch ihre Einwohner. Gott sei Dank sind die »Yuppies« noch in der Minderheit. So richtig mit ihrer Heimat verwachsen sind die »Molly Malone«-Typen, jene urwüchsig vitalen Charaktere, die Brendan Behan so treffend gezeichnet hat. Man entdeckt sie allerdings nicht auf den ersten Blick, sondern muß sich schon die Mühe machen, auch hinter die Fassaden zu blicken und durch etwas entlegenere Viertel zu streifen. Im Stadtteil Liberties oder auf der Rathmines Road werden uns mit Sicherheit solche Kerle begegnen, die sich als Nachfahren von Männern wie Jembo-no-Toes, Johnny Forty Coats, Damn-the-Weather und Jack-the-Tumbler fühlen. Es wäre schade, wenn wir diesen Menschenschlag nicht zu Gesicht bekämen, denn dann fehlte ein wichtiges Element im Gesamteindruck von der Stadt. Wie viele Besucher lernen diese ausnehmend herzliche, humorvolle Gattung Mensch nicht kennen, weil sie sich nicht die Zeit nehmen, einem Windhundrennen beizuwohnen oder urige Pubs abseits der ausgetretenen Touristenpfade aufzusuchen.

Wer Dublin wirklich kennenlernen möchte, muß es in all seinen Facetten betrachten. Dazu zählen die georgianischen Villen und die Prachtstraßen ebenso wie die weniger auffälligen Gassen, die »lanes«, Hinterhöfe, Baulücken, abgeblätterten Fassaden und blinden Fenster. Jedes eine Spalte in einem wichtigen Nachrichtenblatt, das unsere Augen erst lesen lernen müssen. Scheinbar nichtssagende bauliche Details, befremdende, rührende, manchmal poetische Bilder beschwören einen Augenblick lang die Zeit der Jahrhundertwende herauf. Gerade weil die Stadt nicht wirklich spektakulär ist, achtet man intensiver auf kleine Dinge und Menschen auf der Straße, läßt die Atmosphäre unmittelbarer auf sich wirken. Dublin ist voller Gegensätzlichkeiten und Widersprüche, wirkt grau und farbenfroh zugleich, fasziniert mit seinem morbidem Flair.

Wenn man sich in Dublin verliebt – und das tun die meisten Besucher – dann ist das Gefühl der Begeisterung stets gepaart mit einer gewissen Wehmut, die sich als bleibender Eindruck festsetzt und ästhetische Wertmaßstäbe verändern kann. Dies wird helfen, den Sonderstatus, den Dublin innerhalb Europas einnimmt, schätzen zu lernen. Unserer Ansicht nach ist es neben Lissabon die einzige Hauptstadt Europas, deren Schwelle das 20. Jh. noch nicht vollends überschritten hat, weil man hier spürt, dass dies mit dem Verlust des Eigencharakters einhergehen würde. Von dieser Stadt können im Gegenteil alle anderen noch lernen: von der Wärme und Herzlichkeit der Menschen hier wird sich selbst derjenige, der kein Wort versteht, eine Scheibe abschneiden können. Dies ist nämlich letztlich das, was Dublin und ganz Irland auszeichnet.