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Vorwort

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Einstimmung

Vorwort des Autors

Folgenden selbstironischen Witz erzählen die Venezolaner oft und gerne:

„Als Gott in sechs Tagen die Welt erschuf und Venezuela formte, da schöpfte er aus dem vollen: er kreierte die abwechslungsreichsten und schönsten Landschaften, karibische Traumstrände, endlose Urwälder, schneebedeckte Berggipfel sowie eine weite Steppe. Auch mit dem Artenreichtum von Pflanzen und Tieren geizte er nicht, denn er liebt die Vielfalt. Er gliederte das Land mit über tausend Flüssen und richtete verschiedene Klimazonen ein, die den Anbau aller Obst- und Gemüsesorten sowie deren Weitertransport ermöglichen sollten. Zu alledem bedachte er das Land noch mit einem Überfluß an Bodenschätzen in Form von Gold, Diamanten und reichlich Erdöl. Als er sein Werk vollendet hatte, lächelte er zufrieden: kein Land auf der Welt hatte er so großzügig ausgestattet wie Venezuela. Der ausgleichenden Gerechtigkeit halber setzte er die Menschen hinzu, die mit alledem nichts Rechtes anzufangen wissen: die Venezolaner.“

Wir können uns kaum vorstellen, dass dieses Paradies auch seine Schattenseiten hat; korrupte Politiker etwa, die Wirtschaftskrise, die Geldentwertung, große soziale Unterschiede, Kriminalität und Analphabetentum.

Verfügt dieses Land, das zweieinhalb mal so groß ist wie die Bundesrepublik Deutschland und in dem rund 21 Millionen Menschen leben, nicht über eine 2.000 km lange Karibikküste mit herrlichen Traumstränden? Grenzt Venezuela nicht an Kolumbien im Westen, an Guayana im Osten und an Brasilien im Süden?

Wer das Abenteuer sucht und eine fremde Kultur erleben will, dem bleiben Eindrücke haften, die er sein Leben lang nicht vergißt: von der Landschaftsvielfalt, der sandgelben Wüste »Los Medanos«, den Pfahlbauten in der Sinamaica-Lagune oder im Orinokodelta, der eintönigen Steppe der »Gran Sabana« mit ihren mysteriösen Tafelbergen, den »Tepuys«, den Palmenstränden und Korallenriffen, dem Urwald im »Territorio Amazonas« mit seinen indianischen Ureinwohnern bis hin zur Andenkordilliere mit ewigem Schnee auf dem »Pico Bolívar«.

Bei einem Blick auf die Sozialstruktur wird man sehr schnell feststellen, dass Venezuela ganz unterschiedliche Gesichter hat: ein mittelalterliches, eines, das an Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg erinnert, aber auch ein modernes wie in den USA. Dieser gleichzeitige Blick in die Vergangenheit traditioneller Bezüge und in die Zukunft einer High-Tech-Gesellschaft, die in Venezuela beide gegenwärtig sind, faszinierte mich und stimmte mich nachdenklich zugleich. Die so vielfältigen Gesichter des Landes finden ihren Niederschlag in unterschiedlichen Mentalitäten, Verhaltensweisen und Lebensstilen: der Andenbauer unterscheidet sich vom Küstenbewohner im gleichen Maße wie die Indianer vom konsumorientierten Großstadtmenschen.

Aber Vorsicht: wer die Bequemlichkeit liebt und vom Chaos nichts hält, Angst vor unerwarteten Ereignissen hat, Wert auf Pünktlichkeit legt, ungeduldig ist oder stets alles besser weiß, der sollte sich ein anderes Reiseland suchen! In Venezuela hat das Wörtchen »Organisation« keinen großen Stellenwert, und die Zeit wird anders bemessen. Denn das Lieblingswort der Venezolaner heißt mañana und bedeutet soviel wie »morgen vielleicht ...« Der Eindruck drängt sich auf, dass folgendes Sprichwort in Venezuela unbekannt ist: »Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen«. Dieser Umstand ermöglicht uns streßfreies Reisen im ganzen Landesinneren; in der Hauptstadt Caracas geht es allerdings eher hektisch zu.

Nach dreieinhalbjährigem Aufenthalt habe ich Venezuela verlassen, aber Venezuela hat mich nicht verlassen. Ein Stück davon blieb in mir hängen, und so wurde dieses wunderschöne Land zu meiner zweiten Heimat.

H. Pieper