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Literarische Bomben und Paukenschläge

Keine Begeisterungsstürme für Erbauliches

Und dann plötzlich die Bombe. Ein vierundzwanzig Jahre junger Mann läßt sie 1839 platzen, als er Barzaz Breiz publiziert, eine Auswahl mündlicher bretonischer Literatur, gesammelt von Hersard de La Villemarqué. Die Reaktionen außerhalb der Bretagne auf diese zweisprachige Ausgabe waren überschwenglich, ja überwältigend. Barzaz Breiz – das war die Ilias, oder die Odyssee! . »Hut ab vor den Bretonen! rief George Sand. Das Werk wurde in mehrere europäische Sprachen übersetzt. Die Romantik, die Nebel und die finsteren Wälder des Nordens in Mode gebracht hatte, begeisterte sich für die (unechten) sehr alten Ossian Sagas des Schotten Macpherson; das Keltentum war hoffähig und sogar modern geworden.

In der Bretagne selbst verhielten sich die Wissenschaftler recht zurückhaltend. Historiker, Philologen, sowie Volkskundler betrachteten Barzaz Breiz mit Vorbehalt. Schon bald legten sie nahe, dass der Autor die Texte zumindest abgeändert habe, insbesondere die historischen Gedichte mit stark nationalistischem Beigeschmack. Die Angelegenheit verschlimmerte sich, man sprach von Betrug. Zwischen Anhängern und Gegnern von Barzaz Breiz nahmen die Wortwechsel homerische Züge an. Die Politik mischte sich ein; die Laizisten waren dagegen, die »Weißen dafür. Was La Villemarqué‚ anging, so ließ sich dieser nie dazu herab, sich in den Kampf einzuschalten, nie zeigte er die Reisetagebücher vor, deren umstrittene Existenz bewiesen hätte, dass er wirklich vor Ort Untersuchungen angestellt hatte. Der Barzaz Breiz-Streit dauerte hundertfünfzig Jahre an, bis ein Forscher namens Donatien Laurent 1974 die berühmten Aufzeichnungen wiederfand und veröffentlichte. Barzaz Breiz ist demnach also wirklich von den Lippen alter Volkssänger abgelesen worden. Die Angelegenheit ist abgeschlossen, so scheint es. Hinzuzufügen ist jedoch, dass La Villemarqué ohne zu zögern manche Gesänge abgeändert hat, um sie für die Ohren seiner Zeit zugänglicher zu machen ...

Durch Barzaz Breiz hatte Europa gelernt, dass die Niederbretonen keine Wilden waren, und dass sie ganz im Gegenteil wahre Schätze mündlich überlieferter Literatur besaßen. Aber das Werk hatte keine Zukunft, obgleich das Sammeln von Volksmärchen sich fortsetzte, geprägt von der Veröffentlichung zahlreicher Sammlungen (darunter die exzellenten von Luzel). Sicher, das ganze Jahrhundert hindurch versuchten sich brave Bretonen in der Lyrik, im Theater, in der Kurzgeschichte, im Roman. Aber trotz vereinzelter Erfolge, wie Bilzig von Le Lay, riefen die Ergebnisse keine Begeisterungsstürme hervor, denn die Autoren sind ungeschickt, zu konventionell beim Aufbau und bei der Themenwahl; die Texte gehen in ihrer Tragweite nicht über den Kanton hinaus; die erbaulichen Absichten herrschen thematisch vor; kurz und gut – sie sind vor allem für den Geistesgeschichtler, den Soziologen und Volkskundler von Belang.

Dann folgte 1923 mit Gwalarn ein neuer Paukenschlag, dem allerdings diesmal einige Vorboten vorausgingen, nämlich die Lyrik von Calloc´h und das Theater von Malmanche. Gwalarn (Nordwesten), zunächst literarischer Anhang der autonomistischen Zeitung Breiz Atao, später dann unabhängige Revue unter der Leitung von Roparz Hemon, einem jungen Anglistikdozenten, ruft Unruhe, um nicht zu sagen, einen Skandal hervor. Bis dahin schrieben diejenigen, die sich der bretonischen Sprache bedienten, als Amateure. Jene Gemeindevorsteher, Anwaltsgehilfen und Apotheker waren sozusagen Sonntagsdichter. Bestenfalls gelang ihnen ein hübscher Entwurf, eine amüsante Gestalt, ein schmissiger Dialog. Was nun nimmt sich Gwalarn vor? Ganz einfach eine wahre Literatur aufzuerlegen, die würdig ist, mit der europäischen Literatur, ja mit der Weltliteratur zu rivalisieren. Hemon der Bilderstürmer schreibt, dass in der Bretagne fast nichts zu erhalten sei, fast alles zu zerstören, alles zu erschaffen sei. Er treibt die Unverfrorenheit soweit, zwei Heftchen von Brizeux (1806-1858), dem unsterblichen Autor von Marie, Telenn Arvor, Furnez Breiz (zu deutsch Harfe Armorikas, Bretonische Weisheit), neu herauszubringen, aber zu didaktischen Zwecken. Hier ist das, so sagt er im wesentlichen, was wir nicht mehr wollen, hier ist die Art von Beispielen, denen man nicht folgen sollte. Kennwort: Nein zum Regionalismus, es lebe der Universalismus. Die Sprache Gwalarns wird gesäubert von provinziellen Affektiertheiten und von Augenzwinkern für die Wiederkäuer von unendlichen dialektalen Variationen, Platz für die Moderne. Gwalarn nimmt sich also vor, rasch Grammatiken und Wörterbücher herauszugeben, um den Bretonen zu ermöglichen, ihre Sprache zu lernen bzw. wieder zu lernen. Die monatlich erscheinende Zeitschrift ist der Lyrik, dem Roman, der Kurzgeschichte und dem Theater gewidmet, sowie der gnadenlosen Kritik. Und dann gilt es noch, »unsere Fenster zur Welt zu öffnen« d.h. die Hauptwerke der Menschheit zu übersetzen. Die irischen oder walisischen Klassiker natürlich, aber auch Goethe, Hoffmann, Rilke, Puschkin, Shakespeare und sogar Boccaccio, zum großen Schaden der katholischen Kirche.