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Soziales Christentum

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Revolutionäre Pfaffen

Für ihre Knechtschaft kämpfende Sklaven

Nichtsdestotrotz waren in der Kirche Frankreichs seit fast fünfzig Jahren neue Tendenzen aufgetaucht. Ein soziales und fortschrittliches Christentum war geboren und wurde, was kein Zufall ist und uns näher interessieren wird, von einem bretonischen Priester getragen.

Félicité Robert de Lamennais, 1782 in Saint-Malo geboren, war allerdings ursprünglich weit entfernt von den Positionen, die er ab 1830 vertreten sollte. Royalist und militanter Ultramontaner, trat er zu Beginn der zwanziger Jahre als aufsteigender Stern der konservativen Intelligentsia in Erscheinung. Von daher erschien 1830 sein Umschwung, als er nämlich zusammen mit Lacordaire und Montalembert die Zeitung L´Avenir (Die Zukunft) gründete, in der die Trennung von Kirche und Staat verfochten wurde, seinen früheren Bewunderern wie ein Skandal und ein Verrat. Aber Lamennais ging noch weiter, denn er interpretierte die Botschaft Christi nicht als bloße Wohltätigkeit, sondern als Teilen mit dem Nächsten, und ließ sich so zum Verfechter der sozialen und politischen Forderungen des Volkes machen; und als Rom ihn verdammte, inszenierte er seinen Bruch mit großem Getöse.

In diesem Sinne – ich will sagen: durch diesen Radikalismus in der gesellschaftlichen Weissagung – ist der Autor von Paroles d´un croyant der geistige Vater sowohl der europäischen Christdemokratie als auch jenes revolutionären Katholizismus, der so charakteristisch für die Bretagne ist, und der, durch die JOC (Jeunesse ouvrière chrétienne – Christliche Arbeiterjugend) oder den MRJC (Mouvement rural de la jeunesse chrétienne – Bewegung der christlichen Landjugend) formiert, bestimmt im Laufe der sechziger Jahre die Richtung der Arbeiter- und Bauernverbände (CFDT, FDSEA, CDJA), liefert der PSU (1960 gegründete Vereinheitlichte Sozialistische Partei, heute Teil der PS, der sozialistischen Partei) leitende Angestellte und sogar Bürgermeister für Morlaix und Saint-Brieuc. So dass man heute sagen könnte, dass Lamennais in seiner Heimatregion einen Kampf gewonnen hat, der durch folgende Frage eröffnet wurde: »Warum kämpfen die Sklaven für ihre Knechtschaft, als handle es sich um ihr Heil?« Eine schwindelerregende Frage, die er sich 1835 in seinem Vorwort zur Neuauflage des Discours de la servitude volontaire von La Boetie; gestellt hatte: könnte man darin nicht, obwohl die zeitgenössische Kritik sie in einen Kontext wiederholter Volksaufstände einordnet, ein Wiederaufleben seiner Fragen aus der Jugend sehen, wenn er als Seminarist aus Saint-Malo, der vom Glauben und dem Wunsch, Paris zu erobern, beseelt war, die Republik verdammte und die Chouannerie verehrte?