SPANIEN ERLEBEN

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Nachbar Spanien

Die Spanier und Europa

Sevilla

Seit 1985 ist Spanien Vollmitglied der EU, wo seine Anweseneit sich immer lautstarker bemerkbar macht. Jeder Reisende aus einem anderen Land der Gemeinschaft kann sich also von Rechts wegen in Spanien wie zu Hause fühlen ... Das genügt jedoch nicht, um ihn vor der Gefahr von Mißverständnissen zu schützen, denn das aus der Vergangenheit zurückgebliebene Bild vom anderen kann, selbst wenn es schließlich in den Tiefen des Unbewußten versinkt, das Verhalten noch wesentlich beeinflussen. Sich dessen bewußt zu sein, ist deshalb nicht ganz uninteressant, und sei es nur, um nicht falschen Vorstellungen zu erliegen.

Denn die lange Zeit durch den Lauf der Dinge reserviert gebliebenen Beziehungen zwischen Spaniern und anderen Europäern gestalteten sich immer recht kompliziert. Im Laufe der Jahrhunderte wurden sie abwechselnd von Überlegenheitsgefühlen und dann wieder von Minderwertigkeitskomplexen bestimmt. Sicher, die Zeiten liegen weit zurück, in denen das habsburgische Spanien ~ in Verbindung mit seinen österreichischen Cousins, Inhaber der Kaiserwürde ~ Europa von Flandern bis Süditalien und Sizilien beherrschte. Aber dieses weit entfernte Goldene Zeitalter hat einen legitimen Stolz genährt; Monumente und Kunstwerke legen nicht als einzige davon Zeugnis ab. In der jüngeren Vergangenheit indes ließ das Zeitalter der »Dekadenz« die Spanier sich oftmals den europäischen Nationen gegenüber ~ die einen Vorsprung aufweisen konnten im Rennen um die industrielle Revolution und um die Kolonialmacht ~ unterlegen zu fühlen. Auch sollte man besser wissen, dass der Spanier, wenn er von seinem Land spricht, sich meist einer schizophrenen Sprache bedient, die von einer manchmal mit Narzißmus unterlegten Selbstgefälligkeit bis hin zu einer masochistischen Selbstverleugnung reicht ...

Beziehungen, von anderen Europäer während einer Spanienreise knüpfen, sind nicht immer sicher vor den Vorurteilen der Vergangenheit. Wie andere Völker wenden auch die Spanier gerne Stereotype bei jedem ihrer Besucher an. Es liegt dann an letzteren, diese zu widerlegen oder sie zu nuancieren! Im übrigen sind diese Bilder ambivalent und sogar widersprüchlich.

Der Engländer wird oft noch als der siegreiche Rivale angesehen, der Spanien mit der Beherrschung der Meere das Kolonialreich abnahm, durch das es sich eine Zeit lang zur ersten Weltmacht aufgeschwungen hatte; und der Status von Gibraltar ~ wo England sich vor bald drei Jahrhunderten niedergelassen hat ~ ist ein immer noch ärgerliches Symbol britischer Arroganz. Das hindert aber weder die englische Sprache daran, sich seit einigen Jahren einer beispiellosen Beliebtheit zu erfreuen, noch die britischen Rockgruppen daran, im Radio und in den Discos an oberster Stelle zu rangieren.

Der Franzose bleibt ein unmittelbarer, von seiner Überlegenheit durchdrungener, Nachbar, dessen Überheblichkeit gerne als herablassend eingeschätzt wird. Die Erinnerung an den napoleonischen Einfall ~ umgangssprachlich la francesada genannt ~ in Frankreich weitgehend vergessen, bleibt lebendig in Spanien, mit ihren Begleiterscheinungen wie Massaker, Plünderungen und Vandalismus. Kurz vor dem Zusammenschluß Europas geben die Konflikte wegen des Fischereirechts im Golf von Biscaya Anlaß zu Vorfällen, die eine unterschwellig existierende Frankophobie anheizen. Aber bei dem Wort Frankreich erinnert man sich auch der Revolution von 1789 und der Menschenrechte, sieht die Zufluchtsstätte für verfolgte Republikaner im Jahre 1939 vor sich sowie das Paris der Vergnügungen und leichten Sitten.

Die Deutschen sind Gegenstand nicht weniger widersprüchlicher Darstellungen. Jene Spanier, die der Ära Franco nachtrauern, halten die Erinnerung an die von der Legion Condor gebrachte Hilfe im Bürgerkrieg von 1936-39 aufrecht und träumen manchmal noch vom Deutschland des Dritten Reiches. So z.B. die Verkäufer an den Ständen des rastro, die auf Abzeichen und Broschüren aus der faschistischen Epoche spezialisiert sind. Wesentlich weiter verbreitet ist natürlich das Prestige, das den Deutschen technisches Know-how und Organisationstalent einbringen. Und zahlreich sind die spanischen Intellektuellen, die vom Einfluß deutschen Gedankenguts, deutscher Musik und deutscher Wissenschaften geprägt sind ... Die Aufmerksamkeit, die dem deutschen Touristen, auf der Suche nach der Sonne und den Schönheiten Spaniens, von seinen spanischen Gesprächspartnern entgegengebracht wird, wird von diesem zugrunde liegenden Bild beschönigt.

Es darf auch nicht vergessen werden, dass die spanische Auswanderung in den sechziger Jahren am Anfang einer richtigen Diaspora stand. Während einer Reise kann es vorkommen, dass man Ihnen aufs Geratewohl von Verwandten erzählt, die in Deutschland oder in der Schweiz wohnen, von Vettern, die dort jahrelang gearbeitet und gelebt haben ... Diese Wanderbewegungen waren ein bedeutender Austauschfaktor, wodurch die Beziehungen zwischen den europäischen Nationen gefestigt und ein Beitrag zu einem besseren gegenseitigen Verständnis geleistet wurde. Jede Spanienreise bietet eine weitere Gelegenheit, vorgefaßte Urteile auf beiden Seiten abbauen zu helfen. Entweder entsteht Europa durch die zwischenmenschlichen Beziehungen oder es entsteht überhaupt nicht!

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Foto: Fotolia, Spanien, Sevilla, Einkaufsstraße