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Auswanderung

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Arbeiter und Dienstboten

Schaps und Schock

In gewisser Weise die ersten Immigranten, stapelten sie sich in den Vororten, der eine bei Verwandten oder Freunden, der andere in speziellen Heimen, wo man schichtweise auf Strohsäcken schlief, den Händlern des Schlafs ausgeliefert. Die Männer verliehen ihre Arme in den Fabriken; die Frauen ihre Folgsamkeit in den Bürgerhäusern als Hausangestellte. Arme, im Großstadtjungel verirrte Teufel! In einer Postkartenserie vom Ende des 19. Jahrhunderts hat der Photograph sie bei ihrer Ankunft in Saint-Denis festgehalten: nicht ein Lächeln auf ihren verängstigten Gesichtern; nicht eine ungezwungene Geste geht von diesen Körpern aus, die in den Karren eingepfercht sind, die sie transportieren; verstörter Gesichtsausdruck, aus Schlafmangel glänzende Augen, ein Zusammendrängen von müdem, bereits besiegtem Fleisch. So wie die Einwanderer von heute wurden diese Bretonen von der zeitgenössischen Presse unfreundlich behandelt: die Vorbilder einfachen Glaubens, von Gehorsamkeit und Ausdauer waren vergessen; man sah in ihnen nur Wilde, die zur Fürsorge und zur Kriminalität verdammt waren.

Hier, mit diesem schwarzen Halstuch über einem weiten grauen Fuhrmannskittel, das könnte meine Urgroßmutter sein; es wäre schön, wenn der dort, der als einziger dem Objektiv ins Auge schaut, mein Urgroßvater wäre (der andere war auch ein Gastarbeiter, aus Piemont).

Zwanzig Jahre später liegt man mit Deutschland im Krieg. Mit Schnaps abgefüllt, an vorderster Front wie die afrikanischen Schützen, werden die Männer in den Krieg geschickt, um »ihrer Pflicht als Franzosen nachzukommen« die sie im übrigen mutig erfüllen. Man schätzt, dass 240.000 Bretonen im Ersten Weltkrieg gefallen sind, wobei bemerkenswert ist, dass es insgesamt nur etwas mehr als drei Millionen Bretonen gab.

Durch die Rückkehr der Frontsoldaten erlitt das ländliche Frankreich einen immensen Schock. In der Bretagne äußerte dieser sich dadurch, dass die junge Generation sich des wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Rückstands der traditionellen Gesellschaft bewußt wurde, sowie durch ein Gefühl der Auflehnung gegen die Mißachtung, mit der die Bretonen behandelt wurden. Daraus leitete sich ein Aufwachen ab, dass ich als »erste Modernisierunge Bewegung zeichnete sich um die Zeitschrift Gwalarn und autonomistische bzw. separatistische Grüppchen herum ab.

Aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg und, genauer gesagt, im Laufe der sechziger und siebziger Jahre bringt eine Art Revolution die traditionelle bretonische Gesellschaft durcheinander, oder führt vielmehr praktisch zu ihrer Zerstörung. Ein intensiver und schmerzhafter Abschnitt, reich an Träumen und Revolten – aber auch an Enttäuschungen – aus dem eine neue, kontrastreiche Bretagne entstehen wird, in der die extremste Modernität neben altertümlichen Nischen existiert. Eine lebendige und unternehmungslustige Bevölkerung hatte sich entschlossen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, und das trotz eines Umfeldes, das ihr nicht immer günstig gesonnen war.