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Ouessant

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Ouessant (»die Herausragende«)

Cäsar hat Schiß - heldenhafte Weiber

»Weiter gen Norden, Ouessant,

und ihre Mündel im Dunklen

Le Stiff, Creac´h und Jument

Nividic, Men Tensel und derselben.

Ouessant, deren Männer und Frauen

die besten der Welt gewesen sein sollen ...«
Georges Perros

Von den sieben Hauptinseln, Dutzenden kleineren Inseln und den Hunderten von Klippen, die am Kap von Ouessant die Schiffahrt zu einem Abenteuer machen, sind einzig Ouessant und Molène noch bewohnt, wohingegen alle andere, die nach und nach von den Tangsammlern geräumt wurden, die Funktion von Reservaten für Vögel, Hasen, Ratten und Mäuse übernommen haben.

Ouessant hat die Form eines Rechtecks mit einer Fläche von sieben mal vier Kilometer und besteht aus Schiefer und Turmalin, einem in allen Farben auftretenden Mineral, das auch als Schmuckstein verwandt wird. Mit ihrer Lage 22 Kilometer vor dem Kontinent bildet die Insel – für den französischen Teil – die Bugspitze der Alten Welt inmitten dieses armorikanischen Ozean, der Cäsar derartige Angst einflößte, dass er seine Eroberungen hier beinahe eingestellt hätte.

Der bewohnten Welt dreht Ouessant den Rücken zu. Die Vegetation hier draußen besteht aus salzgetränkten Gräsern, Flechten, Büschel von Malvenblüten, einem kurzen Heidekraut, verschiedenen Arten von Torfmoos, Farnkräuter und Zwergginster. Ouessant besitzt den Ruf der »furchterregenden Insel« von Sturm, Wind und Nebel. Heute hat man sie zum Ausflugziel erklärt, gerade um dieses eindrucksvolle Geschehen zwischen Himmel und Meer zu erleben. An der pointe de Pern ragen Felsen in Form fantastischer Tiere aus dem Wasser, zerklüftete Grotten höhlen die Klippen aus, mächtige Felsen erheben sich in der Bucht von Benigou, an der pointe de Pen-ar-Lan, Pen-ar-Roc´h, Roc´h Hir oder Porz-Doun.

Die Insel Ouessant (von Gallisch uxisama: die Herausragende) war bereits seit der Vorgeschichte besiedelt und wurde von Pol-Aurélien aus Süd-Wales christianisiert, der an der Stelle des heutigen Lampaul ein Einsiedelei gründete. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts fielen die Engländer über sie her, um sie bald danach wieder aufzugeben. Sie wurde verstärkt und an die königlichen Ländereien verkauft. Der Ritter Du Couëdic, Kommandant der Surveillante, kämpfte und siegte hier. Und Chateaubriand hätte beinahe seine Atlantiküberquerung in der offenen See vor diesen Küsten beendet. Die Schiffe, die heute hier untergehen, sind nicht mehr derart prunkvolle Drummond-Castle, sondern schnöde Öltanker und tragen so traurig-berühmte Namen wie Torrey Cannon, Böhlen, Tanio oder Olympic Bravery.

Zu erwähnen bleiben die Sitten des mythischen Ouessant, die in den »Museen« für Technik und Tradition dokumentiert sind (bemerkenswert auch die unberechenbaren und noch dazu von der Jahreszeit abhängigen Öffnungszeiten); die Riten der proëlla, bei der die »Priesterin der Toten« knieend eine befremdliche Litanei in einer Art Singsang heruntersagte; die eleganten alten Kostüme und dieses schreckliche rote Stofftuch auf dem Kopf der verwitweten Frauen; der Ackerbau in den hundert Meter langen »Furchen«; die Geschichte der Rose Héré, Tangsammlerin und »Tochter des Regens«, die in der Nacht vom 1. auf den 2. November 1903 vierzehn Seeleute des Frachtschiffes Vesper aus den Klippen von Pern gerettetet hat.

Doch an der pointe de Roc´h Hir, die Ruine der Kapelle Saint-Guénolé zu meinen Füßen, unter dem Heulen der Nebelhörner, dem Blöcken der Schafe, den drei roten Lichtern des Leuchtturms von Jument alle fünfzehn Sekunden, mit flüchtigen Visionen von grauen Seehunden und Sumpfschwalben im Wind, gebe ich mich jenem Gefühl hin, das der römische Philosoph Boetius als die Ewigkeit beschreibt: »Unmittelbare und unergründlich eindringliche Gegenwart des Lebens ohne Grenzen.«