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Straßen

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Familie, Privatleben und viel zu Fette

Vergänglichkeit, Sünde und wagemutigen Schurken

Wie wir den Hafen verlassen, bereitet uns die Straße einen herzlichen Empfang, ganz wie in der Vorstellung des (Pariser) Dichters Georges Perros: »Hier im Finistère hat man den Eindruck, in eine große Familie zu geraten. Alles spielt sich in der Straße, den Cafés ab [...] Man könnte meinen, es gebe überhaupt kein Privatleben. Aber das ist natürlich verkehrt. Zumindest weiß jeder, dass es auch noch die Straße gibt.«

Das Labyrinth der Altstadt lädt dazu ein, in den Straßen ziellos umherzuirren: rue Obscure (Finstere Straße), rue Monte-au-ciel (Himmelfahrtstraße), passage des Latins (Durchgang der Wichtel), des Feux-Follets (der Irrlichter oder Irrwische), des Ondines (der Nixen), ruelle des Alcyons (Gäßchen der alcyons; sagenhafter Meeresvogel, dessen Auftauchen eine Vorsage über Ruhe und Frieden bedeute) ...

Die Straße der Narren erlebt die grotesken Umzüge der »Fetten« von Douarenez. Als Ausgleich zur Bitterkeit des täglichen Lebens der Fischer nehmen diese »Hochzeiten der Fetten« den Fischern nicht nur alle Übel und Probleme ab, sondern erleichtern sie auch um ihren hart erarbeiteten Lohn. Ein altes Volkslied besingt diesen Gleichmut: Echu an Ened / N´emaon ket jened / Debret an argant / Echu toud (»Vorbei die Fetten, mir tut´s nicht leid, alles vorbei«). Vergängliches Wiedersehen mit der schönen Akorz, der sündigen Tochter Gradlons ...

Vom Ende der Bucht strahlt ein diffuses Licht herüber. Es vergoldet die Banner an den Kirchen von Douarenez-la-Catholique und gleichzeitig zeichnet es vielfach die Form einer geballte Faust in den Felsen von Douarenez-la-Rouge. Vielleicht findet man jedes Mal einen neuen Glanz davon in den Gemälden von Jongkind dem Holländer, Eugène Boudin, Odilon Redon, Vlaminck, Derrain, Renoir oder des aus Japan stammenden Foujita, die gelegentlich oder dauerhaft Söhne der Stadt wurden.

Die Asche des surrealistischen Malers Yves Tanguy treibt in den Gewässern vor der Plage des Dames oder um die Insel Tristan, die einst den wagemutigen Schurken Guy Eder de la Fontenelle aufnahm, bevor sie dem dichtenden Bohemien Jean de Richepin Zufluchtsstätte wurde. Wenn die Nacht hereinbricht, dann – so empfand es Maupassant – verbreitet die Bucht einen nicht minder großen Zauber als ihre Konkurrentin im fernen Neapel. Von den Felsen bei Ris können wir das Schauspiel der Sonne bewundern, die für einen Moment einen violetten Glanz über die blauen Dächer streifen läßt und ein letztes Mal die hellen Fassaden am Hafen anstrahlt, bevor sie irgendwo hinter dem Horizont entschwindet. Die unaufhörlich ein- und auslaufenden Boote reißen mit ihrem Kielwasser die ebene Wasseroberfläche auf. Die Erde in Form einer Zange – im Norden la Chèvre, im Süden das Cap Sizun – zögert noch lange, bis sie sich der blutendroten Elemente bemächtigt, die sich schließlich in den Ozean ergießen.