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Aberdeen und der Nordosten

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Aberdeen und der Nordosten

Aberdeen, die geizige Stadt? Gegenüber den ewigen Scherzen über
den Geiz der Aberdeener bevorzuge ich die Geschichte des Greises, dem sein
Enkel ganz stolz das Fotoalbum vorlegt, das er von seiner Hochzeitsreise mitbringt.
Der alte Aberdeener mustert das Album dreimal von vorne bis hinten, dann blättert
er nach wie vor schweigend zu einer Seite zurück, zeigt auf ein Foto
und gibt schließlich sein Urteil ab: »Das hier ist das häßlichste.«

Die strenge und klassische Metropole zwischen den Mündungen von Don
und Dee (dem sie ihren Namen verdankt, wobei »Aber« soviel wie »trichterförmige
Flußmündung« bedeutet) zählt über zweihunderttausend
Einwohner. Will man so viele Leute jenseits des 57° Breitengrads ernähren,
wessen sich nur wenige Städte in der Welt rühmen können, sollte
man sich besser nicht der Verschwendungssucht hingeben. Nach dem Bildnis der
Grampian Mountains, die den Horizont der Stadt nach Westen hin versperren,
nach dem Bildnis der Buchan Hochebene und der Nordsee, aus der sie ihre Nahrung
bezieht, des Granits, aus dem sie ihre Gebäude baut, ist Aberdeen hart.
Hart bei der Arbeit, beim Vergnügen, beim Reden und trennt sich nur schwer
vom Gelde.

»Ein Aberdeener versinkt im Meer. Die Titanic ist untergegangen«,
lautete einst, so erzählt man sich, die Schlagzeile der Lokalzeitung.
Bevor Aberdeen um 1975 herum auf den Rang der europäischen Erdölhauptstadt
erhoben wurde, hatte man dort praktisch unabhängig vom Hering- und Kabeljaufang
gelebt (der Hafen der Stadt ist der bedeutendste Schottlands, der drittgrößte
Großbritanniens; öffentliche Versteigerungen werktags von 7 bis
8 Uhr), sowie vom Getreide und Rinderbestand eines Hinterlands, das sich zunächst
widerspenstig gab gegenüber der Landwirtschaft, später dann durch
jahrhundertelange Hartnäckigkeit gezähmt wurde.

Aberdeen spürt zwar die Schwankungen auf dem Ölmarkt, ist aber
dennoch abgesichert in Form eines beständigen Grundstocks von mehreren
tausend Arbeitsplätzen, die mit dem schwarzen Gold in Verbindung stehen,
vornehmlich in den Bereichen Wartung, Verwaltung und im Hotel- und Gaststättengewerbe
– und das, nach Meinung von Experten, bis ins Jahr 2020.

Das Erdöl brachte zwar Vollbeschäftigung, Spekulation, Umweltverschmutzung
und Prostitution, hat aber die Mentalität der Leute noch nicht umgekrempelt.
Aberdeen wird weiterhin von einer Oligarchie aus kleinen Honoratioren beherrscht:
Kaufleute, Industrielle, gemäßigte Gewerkschaftler und vor allem
die Pfarrer, Ärzte und Professoren, welche die ehrwürdige Universität,
weitab vom umstürzlerischen Süden, auch weiterhin nach altbewährtem
Muster hervorbringt. Wer die Passanten besser verstehen will, die an einem
jener kühlen frühen Morgende, an denen der Ostwind die im Granit
eingesprenkelten Glimmerkörner schimmern läßt, die ansehliche
und breite Union Street entlanghasten (Aberdeen erinnert dann an ein
anderes Sparta des Nordens, nämlich Helsinki), lese dann am besten Grey
Granite
, den faszinierenden, (zu?) militanten Roman des Landeskinds Lewis
Grassic Gibbon. Und das Werk von Henrik Ibsen, dem Nachbarn vom anderen Ende
der Nordsee, dessen Figuren durchaus als authentische Aberdeener durchgingen.

Die Metropole im Nordosten stellt ein wundervolles Zentrum dar, um in Richtung
des »königlichen Tals« des Dee hinauszustrahlen (Schloß von Balmoral,
Highland Games von Braemar), der eleganten Kleinstädte am Moray
Firth (Elgin, Nairn), die nach den grobschlächtigen Häfen von Buchan
(Peterhead, Fraserburgh) überraschen, ferner in Richtung der Brennereien
von Strathspey (man probiert kaum, aber man kann jederzeit schnuppern) und
der Hauptstadt der Highlands, nämlich Inverness, einem koketten viktorianischen
Ort von fünfunddreißigtausend Seelen. Zweimal in der Woche verbindet
eine Fähre in vierzehn Stunden Aberdeen mit Lerwick, der »Hauptstadt«
der Shetlandinseln, dem Archipel mit den tausend Ponys – die kleinsten, aber
robustesten der Welt – einer Viertelmillion Schafen, 181 Vogelarten, von denen
siebenundsechzig ständig dort hausen, und dem größten Ölterminal
Europas in der Bucht von Sullom Voe. Wer sich Ende Januar in jener Gegend
aufhält, versäume nicht den Up-Helly-Aa von Lerwick, ein
von den Wikingern herrührendes Fest, bei dem die Inselbewohner das Ende
der langen nordischen Nacht feiern. Das geschieht seit rund zehn Jahren mit
um so mehr Elan, als die mit dem Erdöl in Verbindung stehenden Arbeitsplätze
den Shetlandern ein leicht über dem britischen Mittelwert liegendes Durchschnittseinkommen
sichern.

Die Straße von Aberdeen aus nach Süden führt an den Steilklippen
der Nordsee vorbei, von den mächtigen Festungen Dunnottar und Muchalls
überragt, und läuft auch die geschichtsträchtigen Häfen
Stonehaven, Montrose und Arbroath an. Die Straße im Landesinneren durchquert
das fruchtbare Hügelland der Grafschaften Kincardine und Angus, übersät
mit Spuren aus der Piktenzeit (Aberlemno, Meigle, usw.). Sie ermöglicht
einen Besuch der Kathedrale von Brechin sowie des Schlosses zu Glamis, wo
Shakespeare Macbeth umkommen ließ, und endet, am Firth of Tay, in Dundee,
der viertgrößten Stadt Schottlands.