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Schizoland?

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Glaubensvertreter gegen »Eiserne Lady«

Eine andere spektakuläre Kehrtwendung war die der Kirche von Schottland.
Man konnte sie zwar nie, im Gegensatz zur Kirche von England, als »konservative
Partei im Priestergewand« bezeichnen, da ihre Sympathien traditionellerweise
eher bei der liberalen Partei lagen. Was aber nicht darüber hinwegtäuschen
kann, dass die presbyterianische Kirche seit dem viktorianischen Zeitalter
klar gegen ihren Auftrag in den Arbeitermilieus der Großstädte
verstoßen hatte. Mitten in der Krise zwischen den beiden Weltkriegen
beispielsweise schenkte ihre jährliche Hauptversammlung, geblendet von
der »irischen Katholikeninvasion«, dem Schicksal ihrer arbeitslosen Schäfchen
kaum Aufmerksamkeit. Die in der Nachkriegszeit aufgenommene Geduldsarbeit
der »Wiedereroberung« der Arbeiterklasse schien nicht voranzukommen ... als
plötzlich Mrs. Thatcher auftrat. Die Reibereien ließen dann auch
nicht lange auf sich warten, als die Vollversammlung die Regierung zur Mäßigung
aufrief, anläßlich der Debatte über die Stationierung von
Trident Raketen im Loch Fyne und über das Gesetz zur britischen Staatsangehörigkeit
(1981), über den Falklandkrieg (1982), über das Gewerkschaftsgesetz
(1984) und über den langen Bergarbeiterstreik (1984-85). Höchst
unvorsichtigerweise wagte sich die Premierministerin auf das Feld der Theologie
vor, indem sie ihre Vorstellung vom Christentum 1988 vor der Vollversammlung
der Kirche von Schottland darlegte. Von da an, als man ihnen nicht mehr vorwerfen
konnte »Politik zu betreiben«, ließen die Beauftragten der Pfarrgemeinden
es sich nicht nehmen, Mrs. Thatcher auf dem Terrain anzugreifen, das sie selbst
für sich gewählt hatte, und hielten ihr neben anderen Liebenswürdigkeiten
auch vor, dass ihr »Evangelium verlogen sei«, denn die »Barmherzigkeit
könne nicht an die Stelle der Gerechtigkeit treten«. Zahlreich sind seitdem
jene presbyterianischen Pastoren, welche die konservative Regierung öffentlich
wegen ihrer Steuerphilosophie anklagen, ihres Angriffs auf den Wohlfahrtsstaat,
ihrer Wohnungspolitik (»Wir können nicht zulassen, dass die Klasse
der Grundeigentümer jener der Mieter als, in welcher Form auch immer,
sittlich überlegen angesehen wird«) und selbstverständlich wegen
der poll tax, der »Frohen Botschaft für die Mächtigen und
Privilegierten«.

Eine Situation wie in Polen, wo die Kirche das »wirkliche Land« repräsentierte
angesichts einer politischen Macht, die beim Volk auf massiven Widerstand
stieß? Nicht so richtig, denn es steht fest, dass die Kirche von
Schottland weit davon entfernt ist, wieder eine Volkskirche zu werden. Ihre
wiederholten Stellungnahmen bringen jedoch das Bedürfnis zum Ausdruck,
das heute eine pausenlos zunehmende Zahl von Schotten verspürt, Bürger
einer Nation ohne Staat, nämlich über ein nationales Forum zu verfügen,
wo sie ihren Widerstand gegen die Politik einer Regierung publik machen könnten,
die von der großen Mehrheit unter ihnen abgelehnt wird. Mit anderen
Worten, es stellt sich zur Stunde in Schottland das ernste Problem der Legitimität
der politischen Institutionen. Es ist daher nur logisch, dass gerade
drei Instanzen in den Vordergrund des Geschehens zurückkehren, denen
ihr nationaler Charakter eine unbestreitbare Legitimität überträgt:
die presbyterianische Vollversammlung, der Scottish Trades Union Congress
(STUC) und die Universität.

Schizoland?

Es waren im wesentlichen Vertreter dieser drei Institutionen und aus der
Welt der Politik, die 1988 jene Verfassungsversammlung lancierten, deren Aufgabe
es war, einen Referendumsentwurf zur Selbstbestimmung auszuarbeiten, der dem
schottischen Volk vorgelegt werden sollte. Die Konservativen waren natürlich
nicht mit von der Partie, ebensowenig wie, und das ist überraschender,
die schottischen Nationalisten: sie weigern sich, jede andere Form der Verfassungsänderung
in Betracht zu ziehen als die »Unabhängigkeit im Schoße Europas«.
Muß man darin ein neuerliches Beispiel für die Neigung zu Spaltungen
und Rissen innerhalb einer Nation sehen, die man manchmal am liebsten zu Schizoland
umtaufen möchte?

Bonnie Scotland oder Stern and wild Caledonia? Welches dieser
beiden konträren Klischees wird jenem Land gerecht, in dem ein Volk mit
beunruhigenden Widersprüchen lebt? Geizig oder großzügig?
Puritanisch oder hedonistisch? Gleichmachend oder elitär? Herdenmenschen
oder Individualisten? Energisch oder apathisch? Träumer oder Materialisten?
Rebellen oder Konformisten? Kolonisatoren oder Kolonisierte? Dour oder
charming? Das muß schon jeder selbst beurteilen! Aber bitte nicht
erstaunt sein, wenn Sie in ein und demselben Wesen diese scheinbar unversöhnlichen
Charakterzüge ausmachen. Es ist kein Zufall, dass drei Schotten,
nämlich James Hogg, R.L. Stevenson und Ronald Laing, zu den scharfsinnigsten
Analytikern der doppelten Persönlichkeit zählen. Jeder Schotte trägt
in sich die Summe dieser Widersprüche. Und wer wollte sich darüber
beklagen? Der Scotch Whisky gewinnt ja auch – jeder kompetente Zecher wird
das bestätigen – an Geschmack, wenn er ein doppelter ist ..