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Die Hochnäsige und die Hure

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Konkurrenz der Städte

Oh, East is East and West is West

And never the twain shall meet.«

»Ach, Ost ist Ost und West ist West

Und niemals werden sich beide begegnen.«

Rudyard Kipling

 

Die Hochnäsige und die Hure

Die angesehensten Städte des Königreichs – Bath, Edinburgh, London – waren mit im Rennen. Welche von ihnen würde zur »Europäischen Kulturhauptstadt 1990« bestimmt werden?

Die Überraschung war riesig, denn Glasgow trug den Sieg davon. Überraschung? Sie war natürlich groß bei der Nachbarin und schottischen Rivalin Edinburgh. Die eine ist die Kapitale und die andere hat das Kapital; die eine ist patrizisch, die andere plebejisch; die eine apollinisch, die andere dionysisch, und so weiter, und so fort: zwischen Forth und Clyde wird nicht gegeizt mit geeigneten Adjektiven, um dem Besucher die Feinheiten der Dialektik Edinburgh-Glasgow zu veranschaulichen. Majestätisch, spektakulär, historisch, Finanzstadt, athenisch, konservativ, friedlich, gemäßigt, angeberisch, schweigsam, gefühllos, unentschlossen, geizig und angelsächsisch – so lautet, vom Positiven zum Negativen, die Hitparade der Eigenschaftswörter, die Edinburgh, die alte Jungfer, kennzeichnen. Als eine Art Echo zeichnen ihre Antonyme – vulgär, schäbig, mythenhaft, industriell, napoleonisch, rot, gewalttätig, exzessiv, direkt, redselig, warmherzig, kühn, großzügig und keltisch – ein genau entgegengesetzte Porträt von Glasgow, dem Rohling mit dem goldenen Herzen.

Obwohl der Hof (1603) nach London übersiedelte sowie später auch das Parlament (1707), hat Edinburgh (450.000 Einwohner) kaum etwas von seiner Herrlichkeit eingebüßt: es brüstet sich damit, Sitz der schottischen Kirche, Verwaltung und Gerichtsbarkeit zu sein, in seinen Mauern die National Library, die National Gallery, die National Portrait Gallery und die Scottish Gallery of Modern Art zu beherbergen. Ferner erhebt es sich selbst mehrmals im Jahr – anläßlich des Fünf-Nationen-Turniers, des Musik- und Theaterfestivals, und der Generalversammlung der Kirche von Schottland – auf den Rang einer internationalen Hauptstadt.

Der Besucher wird jedoch in Glasgow das größte Bevölkerungsaufkommen finden mit 710.000 Menschen innerhalb des Stadtgebiets, fast zwei Millionen im Ballungsraum des Clydes sowie die Fabriken oder zumindest das, was davon übrig geblieben ist, die Hauptstelle der Gewerkschaften und der meisten bedeutenden Firmen, das katholische Erzbistum und das Hampden Stadion, Hochburg des internationalen Fußballs. Edinburgh läßt sich dazu herab, ein gewisses Interesse am Rugby zu zeigen, »dem von Gentlemen gespielten Gassenjungensport«; Glasgow gefällt sich in einem Gassenjungensport, der von – und, so behaupten böse Zungen, vor – Gassenjungen gespielt wird.

Die Hauptstadt empfängt den Besucher mit den ausgefeilten Manieren und der Beredsamkeit der außerordentlich Edinburgh´schen Grundschullehrerin aus dem Roman von Muriel Spark, »The Prime of Miss Jean Brodie«. Sie bietet ihm die klassische Anordnung ihrer neuen Stadt an, das malerische Durcheinander ihrer gotischen Stadtviertel, die exklusiven Boutiquen an der Princes Street, den romantischen Charme der Hügel, an deren Hängen Schafe weiden und, als Zugabe gewissermaßen, beim Sonnenuntergang eine skyline – die Silhouette im Gegenlicht der Stadtumrisse – die selbst Ludwig II. von Bayern erblassen lassen würde. Die Wirkung ist noch ergreifender, wenn anläßlich des Festivals die tausendjährige Festung angestrahlt wird, die auf dem Gipfel eines düsteren Hügels kauert, und dann in der Luft zu hängen scheint. Keine andere europäische Metropole, es sei denn vielleicht Prag, kann mit Edinburgh mithalten, wenn es um die dramatische Qualität der Naturkulisse geht, was es den Veranstaltern des Festivals ermöglicht, auf dem Vorplatz des Schlosses den verfälschten Prunk des Military Tattoos zu entfalten, jener gewaltigen Militärfanfarenparade, die – unter uns gesagt – das klischeehafteste Bild, das es von Schottland gibt, weitervermittelt.

Über welche Trümpfe verfügt die Rivalin im Westen, um den Touristen auf der Durchreise zurückzuhalten, angesichts der Sammlung von Schauspielen, die von der Hauptstadt inszeniert werden? Auf den ersten Blick bietet sich nichts besonders Anziehendes: eine dunkelgraue Masse, hier und dort unterbrochen von den Wandschmierereien der Punks, dem Erbrochenen der Säufer, zerbröckelnden Fassaden, höllischen Karnickelhochbauten, Abbruchgeländen, stillgelegten Fabriken und jämmerlichen Läden: Antiquitäten, Trödelkram, Polster, Fernsehervermietung, Kneipen, bingo und bookmakers.

Beim ersten Hinhören, die Aggression eines verblüffenden und gutturalen Flusses zusammenhangloser Ausrufe, so etwa wie von Dänen vorgetragenes Arabisch. Bekommen Sie es bitte nicht mit der Angst zu tun, wenn Sie so einen Dialog wie den folgenden aufschnappen, den der Romancier Cliff Hanley berichtet: »Whaur urry? – Erry ur ower err wirra brar.« Es handelt sich hier nicht um gälische Krieger oder Rugbyspieler, die sich verlaufen haben, und die sich einen Schlachtruf zuschreien, sondern um einen braven Glasgower, der sich um seine Kinder sorgt (»Wo sind sie?«) und den man sofort beruhigt (»Sie sind dort drüben bei ihrem Bruder«) – was zwei Engländer aus Oxford in ihrem südlichen Dialekt, pompös »Königinenglisch« getauft, wie folgt wiedergeben würden: »Whee aa they? – Thee aa ove thee with the bwothe«. Halten wir der Glasgower Fassung zugute, dass sie weniger übersteigert ist.

Was den ersten Geruchseindruck angeht, so sollte man lieber nicht versuchen, Glasgow über die London Road kennenzulernen, zur Stunde der alkoholischen Entleerung, kurz nachdem die Pubs zumachen. Kurz, genug um den Besucher auf der Pirsch nach ästhetischen Eindrücken zu veranlassen, stillschweigend eine der Autobahnen anzupeilen – bei denen ein abgebrannter aber größenwahnsinniger Gemeinderat es kürzlich für richtig erachtete, sie mitten durchs Herz einer der am wenigsten motorisierten Städte im Vereinigten Königreich verlaufen zu lassen – und mit Vollgas schnellstens in Richtung des vielversprechenden Grüns der Highlands und des Firth of Clyde zu brausen oder hin zum kultivierten Reiz Edinburghs. Das wäre recht schade. Der Dichter Kenneth White, ein Glasgower, der wohl kaum eines übertriebenen Nationalismus bezichtigt werden kann, da er weit herumgekommen ist in der Welt, versichert uns in seinen Abschweifungen (1977):

»Wenn Glasgow eine alte Hure ist, die gerne geliebt werden möchte, und warmherzig genug ist, um das zu erreichen, trotz ihrer abstoßenden Erscheinung, dann ist Edinburgh eine bürgerliche, hochnäsige, gut erhaltene Frau, die sagt: bewundert mich, sonst ...«