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Whisky

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Ein Bild von der Hölle

»Ich sage nichts über den schrecklichen schottischen Sonntag, neben
dem sich der Londoner Sonntag wie ein Vergnügungsausflug ausnimmt. Dieser
dazu bestimmte Tag, den Himmel zu ehren, ist das beste Bild von der Hölle,
das ich je auf Erden gesehen habe. Laß´ uns nicht so schnell gehen,
sagte ein Schotte auf dem Rückweg von der Kirche zu einem Franzosen,
es sähe aus, als gingen wir spazieren.« Armer Stendhal! Er gibt nichtsdestoweniger
im 45. Kapitel von De l´amour zu, dass »man montags mit einer
in London unbekannten Freude und Hingebung tanzt. Es herrscht viel Liebe im
schottischen Bauernstand«.

Seit der Reformation hört die schottische Kirche nicht auf, sonntags
Nein zum Leben zu sagen. Nein zum Theater, zum Kino, zum Sport und zum Café,
zum Jogging, zum Tanzen und zum Shopping, nein zur weltlichen Lektüre,
und nochmals nein zur Liebschaft – die Stellung auf Knien sei jedoch als Zeichen
der Buße zugestanden, behaupten böse Zungen. Bei ihrer Hauptversammlung
des Jahres 1972 debattierte die freie presbyterianische Kirche, eine »hardliner«
Sekte und recht einflußreich in den Highlands, über die Gewissensfrage,
die sich daraus ergab, dass einige Pastoren am Tage des Herrn die öffentlichen
Verkehrsmittel benutzten, um sich zur Messe zu begeben. Sie schloß 1988
eine angesehene Persönlichkeit von der Kommunion aus, die sie des Golfspielens
schuldig befand und erlegte im darauffolgenden Jahr dieselbe Strafe dem höchsten
Justizbeamten des Vereinigten Königreichs auf, dem Lord Chancellor Lord
Mackay, weil er einer katholischen Bestattungsmesse beigewohnt hatte!

Auch die als weniger reaktionär bekannte Presbyterianische Kirche ermahnte
1976 ihre eine Million Gläubigen, gegen die sonntägliche Öffnung
der Pubs einzutreten: mit dem Argument, dass die Alkoholikerrate in Schottland
viermal so hoch – d.h. in den Highlands zehnmal so hoch! – liege wie in England.

Whisky in Hülle und Fülle

Und dennoch – falls man den Engländern Glauben schenken darf – der
Whisky besteht in der Regel nur aus Wasser, denn die Sassenachs, abgestumpft
durch jahrhundertelange Ginsauferei, behielten in ihrer Sprache nur den ersten
Teil des zusammengesetzten Begriffs uisge beatha (wörtlich: Wasser
des Lebens), mit dem die Gälen den Gerstenalkohol bezeichnen, den sie
seit gut tausend Jahren brennen. »Wi´usquebae, we´ll face the devil«
(»Mit Whisky nehmen wir´s mit dem Teufel auf«): Burns hielt es nicht für
möglich, das so treffend auszudrücken. Aber die Schotten versuchten
in der Tat mit dem bernsteinfarbenen Branntwein, der 1823 dank einer Steuersenkung
für alle Frustrationen erreichbar wurde, den zahlreichen Teufeln der
viktorianischen Epoche die Stirn zu bieten: den Manufakturen und den tenements,
den Bergwerken, den Bergarbeitersiedlungen, der Strafverfolgung, den Enteignungen
und dem Identitätsverlust. Da der Alkoholkonsum in unmittelbarem Verhältnis
stand zu der Schärfe des Klimas, der Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie
zu Müßiggang und Verzweiflung, war es unvermeidlich, dass
das viktorianische, grausame, häßliche und puritanische Schottland,
das seine Kinder durch die Prädestinationslehre der Hölle weihte,
die erste Stelle einnahm beim Alkoholismus, wie es dies auch bei der Auswanderung,
dem Merkantilismus und dem Imperialismus tat.

Die Gründung mächtiger Enthaltsamkeitsbewegungen ließ dann
auch nicht auf sich warten. Im Jahre 1922 wurde sogar ein Kandidat der Prohibitionspartei
zum Abgeordneten von Dundee gewählt, auf Kosten von keinem geringeren
als Winston Churchill!. Alkohol wurde immer höher besteuert, was einzig
zur Folge hatte, dass die Geldbeutel mangels Kneipen noch leerer wurden.
Ein Schotte der neunziger Jahre gibt an die zehn Prozent seines Budgets für
Alkohol und Tabak aus und nur dreizehn Prozent für seine Wohnung, bei
einem britischen Durchschnitt von siebzehn Prozent, was bei weitem der höchsten
Rate in Großbritannien entspricht. Die Öffnungszeiten der Pubs
wurden streng gesetzlich geregelt. Die Folge davon war, dass die Gäste
begannen, in sechzig Minuten die Menge hinunterzustürzen, die sie ehemals
an einem ganzen Abend genüßlich getrunken hatte. Trotz einer Lockerung
der Gesetzgebung bezüglich der festgesetzten Sperrstunde in den Pubs
geht auch weiterhin die große Angst um das letzte Glas um: sobald der
Wirt, meistens um 23 Uhr, das schicksalshafte »Time, gentlemen« ausgesprochen
hat, setzt der Ansturm auf die Theke ein – aber nicht etwa, um die leeren
Gläser zurückzubringen, sondern um volle zu bestellen, die man hastig
vor dem Gong hinunterkippt, so als gelte es, einen Vorrat für die pint-losen
Tage anzulegen. Bloß nie einen Schotten herausfordern beim Wettbewerb
um den schnellsten Trinker! Ein Gesetz von 1913 führte sogar lokale Volksentscheide
zur Prohibition ein, so dass sich das Land in »trockene« und »feuchte«
Zonen aufgeteilt wiederfand. Sonntags hatten nur die bona fide travellers
– die Reisenden, den man Glauben schenkt bei ihrem Schwur, mindestens fünf
Meilen gewandert zu sein – das Recht, in den ländlichen Hotelbars ihren
Durst zu löschen. Diese Nachsicht hörte 1963 auf, als es zu offensichtlich
wurde, dass die meisten Pilger sich damit begnügten, vom nahegelegensten
Parkplatz herbeizuschlendern. Was die Schankwirte betrifft, so investierten
sie keinen Pfifferling in die Einrichtung ihrer Etablissements, da sie unter
der dauernden Bedrohung lebten, schließen zu müssen, falls die
»Trockenen« beim nächsten Referendum gewinnen würden. Unter diesen
Umständen verwundert es kaum, dass Hugh MacDiarmid gerne die schottischen
Cafés empfiehlt, und zwar den »Kennern der Befriedigung, etwas Verbotenes
getan zu haben, denjenigen, die das stets im Trinken latent verborgene Element
des Verfalls schätzen und keinen Wert darauf legen, dass es durch
das Eindringen von Musik, Tinnef, künstlichen Effekten oder sonstigen
Fremdkörpern ausgeschaltet wird. Es handelt sich um die alte Geschichte
derjenigen, die lieber Bitter- als Milchschokolade essen, die lieber Regen
als Sonne mögen, die bitteren Geschmack dem süßen vorziehen.
So liegt der Fall bei den Schotten«. Aber den Fortschritt hält man nicht
auf: manche Pubs werden eitel, bieten kleine Gerichte an, tolerieren Musik,
Darts und sogar einen »Fremdkörper«, von MacDiarmid mit echt schottischer
»Schamhaftigkeit« in obiger Aufzählung ausgelassen: Frauen. Lange Zeit
waren sie ausgeschlosssen, da sie einen schlechten Ruf riskierten, dann wurden
sie in der einzigen lounge geduldet, dem »feinen« Raum des Pubs, wo
die Getränke teurer sind als an der Theke. Heute sind sie mittlerweile
ohne Einschränkungen, allerdings nicht ohne Hintergedanken, zugelassen.

Ein Großteil des schottischen Establishments führt weiterhin
einen heftigen Nachhutkampf gegen den demon drink. Rund fünfzehn
Bezirke sind noch »trocken«. Die neuen Lizenzen werden sparsam vergeben, vor
allem in den riesigen Vorstadtsiedlungen. Erst 1977 gab das britische Parlament
endlich grünes Licht dazu, dass die schottischen Pubs auch sonntags
öffnen dürfen. Durch die positiven Ergebnisse dieser Erfahrung ermutigt,
ließ der Gesetzgeber seitdem nicht wenige Schranken fallen, die nicht
bloß die Öffnungszeiten der Pubs einschränkten, sondern ganz
allgemein den sunday trading, den sonntäglichen Handel. Zumindest
die größeren schottischen Städte entsprechen so gut wie gar
nicht mehr der Beschreibung Jules Vernes, die er in seiner Reise mit Hindernissen
nach England und Schottland,
lieferte: »An diesem Sonntag in Schottland
lagen die Straßen trauriger und verlassener denn je, und die Geschäfte
waren ausnahmslos puritanisch geschlossen.«

»Sollte der seiner Sprache, seiner Kultur und seiner Geschichte beraubte
Bretone im Alkohol die gemeinsame Identität suchen, die ihn mit den anderen
Bretonen verbindet? Sie fragen mich, aus welchen Gründen die Bretonen
trinken? Und wenn es deswegen wäre, um ihren Kummer zu ertränken,
französisch zu sein?« Nehmen Sie einmal diese von einem Journalisten
1977 in Le Monde geäußerte Hypothese, ersetzen Sie »Bretone«
durch »Schotte« und »französisch« durch »britisch« und der kaledonische
Alkoholismus erhält – schließlich – seine politische Dimension.
»Freedom and whisky gang thegither« (»Freiheit und Whisky gehören
zusammen«), lautete Burns´ Ansicht, der ein großer Liebhaber des einen
wie des anderen war. Und dennoch: »Ihrer Sprache, ihrer Kultur und ihrer Geschichte
beraubt«, sind die keltischen Nationen – Wales, die Bretagne, Irland und Schottland
– zusammen mit dem früh seiner Zukunft beraubten Polen die Europameister
in Sachen Alkoholismus – und in Frömmigkeit.