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Von der alten Rußigen...

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Von der »alten Rußigen« ...

Dunedin, Hauptstadt des südkeltischen Votadini Stammes, wurde
zu Edinburgh umgetauft in der Regierungszeit des nordhumbrischen Königs
Edwin, der zu Beginn des 7. Jahrhunderts einen befestigten Posten auf
dem Gipfel der vulkanischen Bergspitze einrichtete, die über hundert
Meter hoch, zu drei Seiten hin jäh abfällt und heute Castle Rock
genannt wird. Im Jahr 1076 ließ die heilige Margarete dort die Kapelle
im normannischen Stil errichten, die wunderbarerweise unzählige Kriege
überlebte und sich stolz mit dem Titel des ältesten Bauwerks Edinburghs
brüstet. Sie liegt innerhalb der Festungsmauern, inmitten einer bunten
Zusammenstellung von Gebäuden aus verschiedenen Zeitaltern, vereinigt
in einem zusammenhängenden Ganzen durch eine Atmosphäre wie die
eines historischen Dramas, verbreitet durch jeden Zoll dessen, was einst eine
der meistumkämpften Festungen Europas war. Dort gibt es die Great
Hall
zu sehen, in der Jakob IV. das Parlament einberief, und den
Crown Room, wo die schottischen Kronjuwelen ausgestellt sind. Vom Schloß
aus führen die düsteren Gassen der Altstadt den Südhang des
Hügels hinab und geradewegs zum Königspalast Holyroood. Jakob
II.
ließ ihn in der Nähe einer Abtei aus dem 12. Jahrhundert
errichten – von der nurmehr Ruinen existieren – und bestätigte dadurch
den Rang einer Reichshauptstadt, auf den sein Vater Edinburgh erhoben hatte,
auf Kosten der antiken Piktenstadt Perth. Zur Restaurationszeit wurde der
Palast im klassischen französischen Stil wiederaufgebaut und dient heute
dem Lord High Commissionner als Residenz, dem Repräsentanten der
Krone bei der Generalversammlung der Presbyterianerkirche sowie der königlichen
Familie anläßlich ihrer Aufenthalte in Edinburgh.

Die Schloß und Palast miteinander verbindende Royal Mile wird
von historischen Gebäuden gesäumt: die St. Giles Kirche,
schottische Gotik, von den Viktorianern überprüft und korrigiert,
dem Parliament House aus dem 12. Jahrhundert, dem Mercat Cross,
einem Marktkreuz aus dem 14. Jahrhundert, den City Chambers, dem Rathaus
aus dem 18. Jahrhundert, der Canongate Tolbooth, dem Zollamt aus dem
16. Jahrhundert, dem Huntly House, ein städtisches Museum aus
dem 16. Jahrhundert, dem White Horse Close, einer Postkutschenstation
aus dem 17. Jahrhundert stammend und dem Haus von John Knox – hervorstehend,
was einiges über das Temperament des Puritaners aussagt, der The First
Blast of the Trumpet against the Monstrous Regiment of Women
schrieb,
aber zwei Lolitas als Ehefrauen hatte. Die alten Gemäuer bilden nicht
den einzigen Reiz eines Bummels die Royal Mile entlang. Das Auge wird
ständig aus allen Richtungen gefordert: seitlich durch die unerwarteten
Perspektiven, die jede Kreuzung auf die Mündung des Forth oder die Hügel
der Pentlands freigibt; nach unten hin von den düsteren und geheimnisvollen
Abgründen, den wynds und closes, jenen mit armseligen Behausungen
gespickten Passagen und Hinterhöfen, die in die königliche Verkehrsader
münden; und von unten nach oben, durch die beeindruckende Höhe der
Mietshäuser aus grauem Stein: die Edinburgher nehmen für sich die
Ehre in Anspruch, den Wolkenkratzer erfunden zu haben.

Die mittelalterliche Stadt streckte sich zwangsläufig in die Höhe,
da sie in ihrer Ausbreitung von abrupten vulkanischen Böschungen und
einem kleinen See, dem Nor´Loch, gehindert wurde. Man muß einfach
einmal die köstlichen Seiten lesen, die Walter Scott in The Heart
of Midlothian
und Tobias Smollett in Humphry Clinker dieser faszinierenden
Auld Reekie widmeten – »alte Rußige«, wie ihre Bewohner sie vertraulich
nannten – während sie in den Jahrzehnten nach der Union eine Bevölkerungsdichte
erreichte, die man für maximal hielt. Ein dermaßen eingeschränkter
Raum konnte sich nicht in reiche Viertel und arme Viertel teilen; von daher
war dort die soziale Schichtung im wortwörtlichen Sinn vertikal: Restaurants,
kleine Läden und Handwerker im Erdgeschoß; Juristen, Universitätsprofessoren,
Händler, Aristokraten und andere Honoratioren im ersten und zweiten Stock;
Kleinrentner und Grundschullehrer im dritten und vierten; und in den oberen
Etagen – und äußerst gefährdet im Falle eines Brandes – das
bunte Gemisch aus Studenten, Hausangestellten, Verkäufern, Prostituierten
und anderen kleinen Leuten. Der erlauchteste Philosoph, wie z.B. David Hume,
begegnete dem finstersten Analphabeten, der hervorragendste Wirtschaftswissenschaftler,
wie beispielsweise Adam Smith, wohnte inmitten von Leuten, die kaum rechnen
konnten, und der strengste Richter, wie z.B. der niederträchtige Lord
Braxfield, das Modell zu Weir of Hermiston, dem posthumen Meisterwerk
Stevensons, traf auf seinem Treppenabsatz den abgefeimtesten Strolch, wie
jener William Brodie, der den Edinburgher Romancier zur Figur des Jekyll und
Hyde inspirierte.

Kurz und gut der Traum eines jeden modernen Städtebauers, bis auf ein
kleines Detail: die Hygienezustände waren erbärmlich. »Mein Herr,
ich sehe Sie nicht, aber ich kann Sie riechen«, schleuderte Dr. Johnson
seinem Gastgeber James Boswell entgegen, der ihn mitten in der Nacht auf seiner
Türschwelle empfing. Zum großen Schaden der Besucher entledigten
sich die Edinburgher des golden age, des goldenen Zeitalters von 1760-1830,
noch ihrer Abfälle, indem sie diese aus dem Fenster warfen. Eine einzige
Einschränkung: man durfte die Exkremente nur nachts ausschütten,
nachdem man ordnungsgemäß den traditionellen Signalruf »Gardyloo!«
ausgestoßen hatte. Dies ist eine Verballhornung des französischen
– Noblesse oblige! – »garde à l´eau« – »Achtung Wasser«: im Elend die
Würde bewahren, daran erkennt man eine große Dame.

... zum »Athen des Nordens«

»Es ist eine bewundernswerte Folge der Fortschritte des menschlichen Geistes,
dass uns heutzutage aus Schottland Geschmacksregeln erreichen in allen
Künsten, vom epischen Gedicht bis hin zur Gärtnerei.« Auf diese
Weise huldigte Voltaire etwas verärgert 1764 einer weitentfernten nordischen
Provinz, deren Hauptstadt, so heruntergekommen, übervölkert und
ungesund sie auch gewesen sein mag, vom Europa der Aufklärung mit dem
prestigiösen Titel »Athen des Nordens« geschmückt wurde. Sogar die
Amerikaner sparten nicht mit Lobreden: »Auf dem Gebiet der Wissenschaften
kann kein Ort auf der Welt danach streben, mit Edinburgh zu wetteifern«, erklärte
ihr Präsident Jefferson. Möge man selbst darüber urteilen:
die »Alte Rußige« beherbergte im Goldenen Zeitalter in ihren Mauern
David Hume, der den jedem guten Lowlander eigenen Skeptizismus zum philosophischen
System erhob, ferner Adam Smith, Adam Ferguson und James Hutton, Gründerväter
der modernen Volkswirtschaft, der Soziologie und der Geologie, dann den Historiker
William Robertson sowie die Philosophen Hutcheson, Reid und Dugald Stewart,
Begründer der sogenannten Schule des »gesunden Menschenverstands«. Alle,
bis auf Hume, der wegen militanten Agnostizismus´ abgesetzt wurde, lehrten
an der Universität, wo sie junge Leute aus ganz Europa als Studenten
hatten, darunter eine hohe Zahl englischer Nonkonformisten, die von den Universitäten
im eigenen Land ausgeschlossen worden waren. Ihre Kollegen in der Mathematik
standen an der Spitzung der Forschung. Die Rechtsfakultät hielt das Scots
law
(schottisches Recht) hoch, und der Ruf der Medizinprofessoren war
so hervorragend, dass die Zaren, von Peter dem Großen bis Alexander
I., ihre Gesundheit nur Ärzten anvertrauten, die in Edinburgh ausgebildet
worden waren (). Was Napoleon anbetrifft, so pflegte dieser nie ohne sein
Lieblingsbuch zu reisen: die italienische Übersetzung der Ossianischen
Gedichte.

Edinburgh, zur europäischen Avantgarde im Bereich des Unterrichts und
der Forschung gehörend, führte auch im Gebiet der Literatur Neues
ein. Im Jahr 1761 finanzierten die gelehrten Professoren der Stadt die Highland
Expedition des ehrwürdigen James Macpherson, der sich anheischig
machte, dort die Manuskripte einer antiken gälischen Saga aufzuspüren.
Er kehrte mit einem Epos in der Hand von dorther zurück, das er Ossian,
einem Barden des 3. Jahrhunderts zuschrieb. In Wirklichkeit verfügte
der Plagiatoren-Pastor nur über authentische Fragmente, um die herum
seine eigene Feder einiges ausgeschmückt hatte. Hume, Johnson und zahllose
andere zeigten den Betrug vergeblich an, die ossianischen Berichte übten
trotzdem einen entscheidenden Einfluß auf die europäische Vorromantik
aus. Goethe und Herder, Madame de Staël und Chateaubriand, Ingres, Mendelssohn
und Napoleon träumten bei ihrer Lektüre von den gälischen Geheimnissen,
Mythen und Melancholien.