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Puritanisches Lebensgefühl

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Puritanisches »Lebensgefühl«

»Schottland ist ein von der Religion verwüstetes Land«, schäumte
der eingefleischt anglokatholische T.S. Eliot. Wir haben jedoch bereits gesehen,
dass die aus der Reformation hervorgegangene Kirche als Modell eines
aufgeklärten Fortschritts gelten konnte. Die von Knox und Melville eingerichteten,
a priori demokratischen Institutionen wurden recht schnell von der Kaste der
priesterlichen Ratgeber, den elders, fehlgeleitet. Sie wurden mit der
Erziehung, der Vertretung und der Überwachung einer Gemeinde beauftragt,
wobei sie letzterer Funktion den Vorzug gaben und sich zu wahrhaftigen Sittenrichtern
innerhalb der schottischen Gesellschaft aufspielten. Sie legten sich dabei
nicht auf die faule Haut: im 17. und 18. Jahrhundert sprachen die Kirchenräte,
denen gegenüber die elders die Aufgabe hatten, die Verfehlungen
ihrer Glaubensgenossen zu berichten, durchschnittlich zwei Verurteilungen
wegen sexueller Delikte im Jahr aus. Frauen bildeten das Gros der Angeklagten,
da ihr Fehler je leichter zu entdecken war als der des Partners. Die Schuldigen
mußten mehrere Sonntage hintereinander Buße tun auf der »Sünderbank«,
die in der Kirche ihrer Pfarrgemeinde aufgestellt war, der gerichtlichen Verfolgung
ausgesetzt. Die zivile Staatsgewalt kümmerte sich darum, die Widerspenstigen
aufzuhängen. Die rasante Zunahme der Kindesmorde im 17. Jahrhundert war
eine der perversesten und tragischsten Auswirkungen dieser Inquisition, die
Walter Scott im Roman The Heart of Midlothian anprangerte, der nach
dem Beinamen des Edinburgher Gefängnisses benannte war.

Aus diesen Jahrhunderten der Unterdrückung ist eine recht vieldeutige
Haltung hinsichtlich des Vergnügens übriggeblieben, egal welcher
Art es auch sein mag, und eine klare Neigung zum Masochismus. Einige der frappierendsten
Indizien sind beispielsweise die Geringschätzung der Zentralheizung und
des Komforts allgemein, der Hang zu den als punishing (»die bestrafen«)
bezeichneten Sportarten, wie dem cross-country, der Atlantiküberquerung
im Ruderboot oder der Besteigung des Montblanc in Espadrilles – man vergleiche
die Berichte der Gendarmerie von Chamonix – eine Vorstellung vom Tanzen, die
eher athletisch als hedonistisch ist und die intime Überzeugung, dass
es keinen Koitus ohne Traurigkeit und keinen Suff ohne Übelkeit gibt.

In Schottland scherzt man nicht mit der Liebe. Die freizügige Gesellschaft
konnte die Cheviots nicht überwinden, wie die Regisseure »gewagter« Stücke,
die beim Edinburgher Festival auf dem Programm standen, schmerzlich zu spüren
bekommen. »Die Schotten treiben es ernsthaft, aber ohne Überzeugung«,
bemerkte der sozialistische und nationalistische Aristokrat Robert Cunninghame
Graham ironisch. Überzeugung wird nur bei Unternehmungen eingebracht,
die sie verdienen, wie beim Spiel, der Religion, im Pub, beim Fußball,
im Beruf, in der Politik oder der Freundschaft. Sartre verglich einmal einen
Militärumzug mit einem kollektiven Orgasmus. Dieser für uns typische
Ersatz wird in Schottland durch das Samstagnachmittagspiel geschaffen. Ich
übertreibe kaum; abgesehen von den jungen Pärchen und den ihre Kinder
spazierenführenden Eltern wird man auf den schottischen Straßen
nicht viele Paare umherschlendern sehen, insbesondere in den Glasgower Arbeitervierteln.
Sind Ehemann und -frau erste einmal versorgt, so gehen sie lieber mit Freunden
des eigenen Geschlechts aus als mit der besseren Hälfte. Dieser Mangel
an Schwung bei der Beziehung zwischen den Geschlechtern ist so kraß,
dass Glasgow die gewalttätige und alkoholische wenigstens eine Tugend
ihr eigen nennen kann: Vergewaltigungen kommen selten vor.

»Da die Priester dieser Sekte nur ziemlich mittelmäßige Löhne
empfangen und sie nicht im gleichen Luxus leben können wie die Bischöfe,
haben sie die schlichte Haltung eingenommen, gegen jene Ehren zu Felde zu
ziehen, die sie selbst nicht erreichen können ... Jene Herren, die auch
einige Kirchen in England haben, haben die ernsten Mienen in diesem Land zur
Mode gemacht«, spottete Voltaire über die presbyterianischen Pastoren,
die ihn zur Verzweiflung brachten. Ihre Härte litt keine halben Maßnahmen:
alles, was mehr oder weniger nach künstlerischer Aktivität aussah,
ging vom Teufel aus und mußte verboten werden. Der Katechismus ersetzte
also die Balladen, die Sünderbank den Tanz und die Hexenhinrichtungen
die Hahnenkämpfe als Volkszerstreuungen. Die Regionen mündlicher
und gemeinschaftlicher Kultur ließen die Wunde noch deutlicher hervortreten:
die Reformation trägt zusammen mit Culloden einen bedeutenden Teil der
Verantwortung für den Untergang der Highlandkultur.

Erschwerender Umstand: zahlreiche gegen Lebensende konvertierte Gälen
verfielen einem Neubekehrten eigenen Fanatismus, gaben sich Autodafés
von Geigen und Dudelsäcken hin, und schlossen sich massenweise der Freien
Presbyterianischen Kirche an, 1843 von Pastoren gegründet, die sich den
»gemäßigten« Tendenzen der etablierten Kirche widersetzten. Allgemien
besteht die Geschichte des schottischen Presbyterianismus aus einer langen
Reihe von Spaltungen. Daraus folgt eine Art kultureller Schizophrenie, die
heutzutage auf den Hebriden grassiert, wo die freie presbyterianische Kirche
sich zum Verfechter des Gälischen erhebt, es jedoch dabei gleichzeitig
in ein archaisches und übertrieben schamhaftes Korsett einzwängt.
Ein Leser schrieb unlängst an den Guardian, um zu bedauern, dass
»ihr tiefer Respekt für den walisischen methodistischen Puritanismus
die Vereinigung für die walisische Sprache dazu anhalte, wichtige Bereiche
des walisischen Lebens der englischen Sprache zu überlassen«. Und da
wäre neben anderen Mängeln das Fehlen von walisischen Handbüchern
über Sexualerziehung, Verhütung, Rugby-, Lotto- oder Dartsregeln
zu nennen. Den gleichen Vorwurf kann man an die Adresse der Commun Gaidhealach
(Vereinigung der Gälen) richten, die zu eng mit der freien Presbyterianerkirche
verbunden ist, um zu hoffen, die gälische Sprache aus der konservativen
Spur herauszuholen, in die man sie verstrickt hat. Wer glückliche Gälen
treffen möchte, im Vollbesitz ihres kulturellen Erbes, hat bis zum Süden
der Äußeren Hebriden vorzustoßen, von Benbecula bis Barra:
sie wurden kaum von der Reformation berührt und sind katholisch geblieben.

Unnötig, sein Hirn noch länger martern zu wollen: der Name des
schottischen Komponisten, den Sie sich vergebens ins Gedächtnis zu rufen
versuchen, wird auf Ihrer Zunge liegen bleiben. Und das aus gutem Grund: dieses
Volk der Sänger und Tänzer schenkte der Welt Erfinder, Philosophen
und Theologen, Entdecker und Soldaten, Gelehrte, Bankiers, Schriftsteller
und Athleten. Aber so gut wie keine musikalischen Genies. Es überließ
es Mozart und Haydn, Ekossaisen zu komponieren, und Mendelssohn, Ossian in
Musik umzusetzen. Unter den unterdrückten Nationen des 19. Jahrhunderts
hatten die einen ihren Chopin, die andern ihren Liszt, ihren Smetana oder
Sibelius. Das viktorianische Schottland hingegen gefiel sich in den schottischen
Tänzen, welche die Belle Epoque zum Tanzen brachten, Philistertum einer
Kirche, die Orgeln aus ihren Gotteshäusern verbannte? Fehlten ein Königshof
und Mäzene? Oder war in einem Schottland, das die Speerspitze des viktorianischen
Imperialismus bildete, jene nationale und aus dem Volk erwachsende Inspiration
zu schwach, die zerrissene Länder wie Polen, Ungarn, Böhmen und
Finnland beseelte?

Die schottische Musik ist zwar nicht »bedeutend« oder »klassisch«, aber
dennoch ungeheuer mitreißend. Es handelt sich dabei im wesentlichen
um eine in der Gemeinschaft geborene Kunst, denn Balladen und bothy songs
der Lowlander, Loblieder und die beim Tweedweben gesungenen waulking songs
der Gälen gründen auf gemeinsamer Komposition, Überlieferung
und Hinzufügung. Aber es geht hier auch um eine äußerst feine
und strenge Technik, wie durch den piobaireachd (anglizisiert zu pibroch)
belegt wird, der traditionellen Form der Dudelsackmusik, bevor die Highland
Regiments
das uralte Instrument der Gälen in eine Art Horn des Reichen
ummodelten. Wer einmal einen richtigen pibroch hören will, eine
Reihe von Variationen zu einem Thema, was was eigentlich die Basis jeglicher
keltischer Kunst bildet, versuche, zu einem ceilidh (»ke-ili« auszusprechen)
eingeladen zu werden, einem nächtlichen Fest in den Highlands. Die keltische
Harfe, ein weiteres klassisches Instrument, erlebt einen Zuwachs an Beliebtheit,
genauso wie andere, zugänglichere Formen traditioneller Musik, begleitet
von Geige und/oder Akkordeon, durch unzählige folk groups wieder
zeitgemäß geworden.