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Schottland - Region oder Nation

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Region oder Nation

»Möge Gott England zur Hilfe eilen an jenem Tag, da es die
Schotten nicht mehr gibt, um an seiner Statt zu denken.«

G.B. Shaw

Ein täglicher Volksentscheid

»Die spinnen, diese Schotten!« platzten Millionen verdutzter Fernsehzuschauern
heraus. »Shocking! Wir sind zum Gespött aller Sportler auf der
ganzen Welt geworden«, lautete die Schlagzeile der britischen Presse, aufgebracht
nach jedem Spiel, das die schottischen Fußballer in Frankfurt während
der Weltmeisterschaft im Juni 1974 bestritten. Dabei hatte sich die Mannschaft
doch höchst anständig verhalten. Obwohl die Spieler ausgeschieden
waren, ohne ein einziges Match zu verlieren – ruhmreiche Niederlage durchziehen
die schottische Geschichte wie ein roter Faden – waren sie stets korrekt,
mutig und würdevoll geblieben, wie es sich für die Verfechter einer
edlen, von vorneherein verlorenen Sache ziemt. Natürlich waren Horden
aufgeregter Kaledonier durch die Straßen der Goethestadt geströmt,
wobei der eine seine Mütze mit dem bunten Schottenmuster zur Schau stellte,
ein anderer ein Trikot mit dem Emblem des aufgerichteten Löwen, und wieder
ein anderer einen nach langer Reise per Anhalter zerknüllten Kilt. Der
DM-Kurs und eine allgegenwärtige Bedrohung durch Polizeihunde hatten
die Schlachtenbummler jedoch davon abgehalten, dort die gleichen Ausschreitungen
anzuzetteln, wie zwei Jahre zuvor in Barcelona: der durch und durch katholischen
katalanischen Stadt war von den streng protestantischen und vor allem kaum
an den vino tinto gewöhnten Anhängern der Glasgow Rangers
übel mitgespielt worden.


Nichts von alledem in Frankfurt – wie übrigens auch nicht in Argentinien
(1978), Spanien (1982), Mexiko (1986) oder Italien (1990): die einzige Ausschweifung
der schottischen Fans, die bei den einen Erstaunen und bei den anderen Verdruß
hervorrief, war ihre seltsame Manie, die erhabenen Klänge von God
Save the Queen
, das doch als ihre Nationalhymne gilt, in Hohngeschrei
und Spott zu ersticken.


»Herr, möge uns Marschall Wade mit Deiner Hilfe zum Sieg führen.
Möge er den Aufstand niederschlagen und wie ein Sturzbach hinabrauschen,
um die schottischen Rebellen zu zermalmen.« Die offizielle Hymne des Vereinigten
Königreichs (England, Wales, Schottland, Nordirland) und mehrerer Commonwealth-Staaten
legt in der Tat den Schotten gegenüber keine besonders sanfte Haltung
an den Tag. Obgleich die beanstandete Strophe – verfaßt, als die Jakobitenclans
unter Charles Edward Stuart (jenem Bonnie Prince Charlie der romantischen
Dichtung) 1745 London bedrohten – heutzutage kaum mehr gesungen wird, kennt
die Mehrzahl der Schotten sie auswendig, genauso wie sie ganze Strophen aus
Epen rezitieren können, welche die Heldentaten von Bruce und William
Wallace Helden der Unabhängigkeit, besingen.

Bevor in den sechziger Jahre die große Welle kulturellen Nationalismusses
die Behörden zwang, die Lehrpläne neu zu bearbeiten, wurde die Geschichte
Schottlands den Schülern des Landes offiziell nicht vermittelt. Generationen
von Schulkindern – gedemütigt von Schulbüchern, die sie geringschätzten,
außer acht ließen oder, schlimmer noch, als volkskundliche Erscheinung
abtaten – schwelgten in einer epischen Literatur, die ihrem Selbstwertgefühl
schmeichelte: mittelalterliche Balladen, ossianische Dichtung, Erzählungen
eines Großvaters
(Tales of a Grandfather) von Walter Scott und patriotische
Gesänge von Robert Burns, wie beispielsweise jener Scots wha Hae
(»Schotten, die ihr mit Wallace geblutet habt, Schotten, die Bruce so oft
führte ...«), den eine Reihe von ihnen heute zusammen mit dem neueren
Flower of Scotland als ihre wahre Nationalhymne betrachten. Denn es
handelt sich in der Tat um ein Volk. Schottland ist mit Sicherheit kein Staat
mehr, nicht einmal mehr ein Bundesstaat. Der Kanton Bern, das Bundesland Hessen
oder der Bundesstaat Wyoming verfügen im Rahmen ihres jeweiligen Bundes
über politische Befugnisse, die wesentlich ausgedehnter sind als die
des schottischen Volkes innerhalb des Vereinigten Königreichs. Aber wieviele
Bürger von Interlaken, Frankfurt oder Cheyenne nennen sich eher Berner,
Hessen oder Wyominger als Schweizer, Deutsche oder Amerikaner?


Will man zahlreichen Umfragen Glauben schenken, so bezeichnet sich nur einer
von fünf Schotten lieber als »britisch« denn als »schottisch«. »Die Nation
ist ein täglicher Volksentscheid«, schrieb Renan. Die Mißbilligung
in diesem Falle ist offen und massiv, zumal sich diese zwanzig Prozent »Briten«
mehrheitlich aus englischen und walisischen »Einwanderern« zusammensetzen.
Über dieses subjektive Kriterium der Zugehörigkeit zu einer nationalen
Gemeinschaft hinaus bietet Schottland mehrere objektive Eigenschaften, die
mit dem Wesen selbst einer Nation verbunden sind: eine gemeinsame Geschichte,
ein von der Natur klar abgegrenztes Territorium, ein trotz der vielfältigen
ethnischen Ursprünge einheitliches Volk, zwei einheimische Sprachen,
eine gefestigte Nationalkirche, ein eigenständiges Rechtssystem, Schulen,
Gewerkschaften, Banken, Sportverbände und sogar ansatzweise autonome
politische Institutionen. Dank seiner geschichtlichen, geographischen, ethnischen,
kulturellen, sprachlichen, religiösen, juristischen und sogar wirtschaftlichen
Eigentümlichkeit unterscheidet sich Kaledonien deutlich vom »perfiden
Albion«.