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Glasgow

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Vom »lieblich grünen Ort« ...

»Glasgow ist die sauberste, ansehnlichste und bestgebaute Stadt Großbritanniens,
abgesehen von London«, schwärmte Daniel Defoe zur Zeit der Parlamentsunion.
Die Stadt, die manche heute – zu Unrecht – als die häßlichste Europas
ansehen, verdankt ihr Entstehen dem südkeltischen Missionar St. Kentingern,
alias Mungo, der um das Jahr 540 herum ein Kloster an einer Glascu
genannten Stelle gründete, was nach Philologenmeinung »der liebe Kreuzgang«
oder »der liebe Bach« heißt, es sei denn, es bedeutet »der lieblich
grüne Ort«, eine Etymologie, die man zu Unrecht als aus der Luft gegriffen
abtäte, denn die graue Metropole am Clyde zählt im Verhältnis
zu ihrer Fläche doppelt so viele Grünflächen wie London mit
seinen vielen Parks. Das Grab des heiligen Stadtpatrons befindet sich in einer
herrlichen Gewölbekrypta in der Kathedrale, vom 12. bis zum 15. Jahrhundert,
errichtet an der Stelle, wo sich einst das Kloster erhob. Da sich die Handwerker
der Stadt durch ein sit-in gegen ihre Zerstörung durch bilderstürmende
Reformatoren gewehrt hatten, ist St. Mungo heute eine der beiden einzigen
schottischen Kathedralen, die verhältnismäßig unversehrt aus
der Reformation hervorgingen. Die andere ist das herrliche romanische Bauwerk
St. Magnus in Kirkwall auf den Orkneyinseln.

Im Jahr 1189 Verleihung der Marktrechte, 1450 Universitätsstadt, 1454
königlicher Marktflecken und 1492 Erzbistum – Glasgow gab sich jahrhundertelang
damit zufrieden, die Handelsmetropole sowie intellektueller und religiöser
Mittelpunkt der westlichen Lowlands zu sein. Aber die Union von 1707, die
den Atlantik gegenüber der Nordsee wichtiger werden ließ, stellte
die wirtschaftlichen und geopolitischen Gegebenheiten Nordwesteuropas auf
den Kopf. Die Glasgower Kaufleute, dem Unionsprinzip eher feindlich gesonnen,
zögerten jedoch nicht, sich daran anzuschließen, nach dem Beispiel
des Amtmannes Nicol Jarvie, der Verkörperung des Glasgower gesunden Menschenverstandes
in Scotts Rob Roy. Sie hatten in der Tat eine ideale geographische
Stellung inne, um sich in den Handel mit den amerikanischen Kolonien zu stürzen,
die England als Mitgift eingebracht hatte. Innerhalb einer Generation sicherten
sie sich das fast vollkommene Monopol im Tabakhandel. Die Unabhängigkeit
der dreizehn Kolonien setzte diesem fruchtbaren Geschäft ein Ende, ohne
jedoch dabei die Stadt zu ruinieren: die tobacco lords stellten sich
auf die Einfuhr von Baumwolle ein, später auf deren Verarbeitung. Ein
neuer harter Schlag sowie eine erneute Umstellung folgten: da der amerikanische
Bürgerkrieg die Versorgung mit Baumwolle unterbrochen hatte, begann man,
die lokalen Kohle- und Eisenerzvorkommen ernsthaft zu fördern, woraus
sich im 19. Jahrhundert eine ungeheure Ballung von Schwerindustrie ergab.

... zum Glasgoliath

Matthew Bramble, der hypochondrische Reisende aus Humphry Clinker,
einem Schelmenroman Smolletts, einem gebürtigen Schotten, der aber literarischen
Ruhm in London erntete, hatte bei den Glasgowern einen »edlen Unternehmungsgeist«
zu erkennen vermeint. Keine Geschichte könnte diesen Charakterzug besser
verdeutlichen, als das Epos vom Schiffsbau an den Ufern des Clyde. »Der Clyde
hat Glasgow geformt und Glasgow den Clyde«, versichert eine lokale Redensart.
Und dennoch: nichts machte Mungos Stadt besonders dafür geeignet, einst
ein bedeutendes Werftzentrum zu werden: der Strom war dort dermaßen
flach, dass die tobacco lords im 18. Jahrhundert ihre Waren in
Port Glasgow auf- und abladen mußten, rund fünfzehn Meilen flußabwärts.
Was ihre Schiffe betrifft, so ließen sie diese in Holland und Amerika
auf Kiel legen. Nun konnte sich Glasgow hundertfünfzig Jahre später
rühmen, drittgrößter Hafen und wichtigstes Schiffsbauzentrum
Großbritanniens zu sein, mit einem Ausstoß, der über dem
der USA lag, und so hoch war, wie die von Deutschland und Frankreich zusammen.

Ein spektakulärer Sprung, ganz dem »edlen Glasgower Unternehmungsgeist«
zu verdanken. Mittels ihrer titanenhaften Arbeit machten sie den Fluß
bis mitten ins Herz der Stadt schiffbar. Ein gebürtiger Greenocker, James
Watt
, erfand die erste wirkungsvolle Dampfmaschine, während er von
der Universität Glasgow als »Gerätefabrikant« beschäftigt wurde.
Der Glasgower J.B. Neilson ersann den Prozeß zur Herstellung
von Roheisen, der seine Namen trägt. Seine Mitbürger Henry Bell
und William Denny brachten das erste seetüchtige Dampfschiff bzw.
den ersten Ozeandampfer aus Flußstahl auf den Markt, während zig
weniger bekannte Ingenieure bahnbrechende Schiffsantriebe austüftelten:
Motoren mit zwei, drei und dann vier Hubräumen. Und nichtzuletzt lieferten
hunderttausende anonymer Neu-Glasgower, durch Vertreibung, Elend und Hunger
von ihrem Land in den Lowlands, den Highlands und Irland verjagt, der Industriellen
Revolution den Vorrat an Arbeitskräften, ohne den sie sich nicht hätte
entwickeln können.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts zählte Glasgow siebenundsiebzigtausend
Einwohner; es waren zehnmal so viele zu Anfang des 20. Jahrhunderts (eine
gute Million, rechnet man die nahegelegenen Vororte hinzu), was aus dieser
Stadt die sechstgrößte Europas und die zweitgrößte des
britischen Empires machte. Die Erzeugnisse, die sie herstellte – von der Flasche
Whisky, über den Nagel und die Lokomotive, bis hin zum Ozeandampfer –
wurden überall hin ausgeführt, von Burma bis Argentinien und von
Indien bis Kanada.

So, wie die Honoratioren Edinburghs im vorangehenden Jahrhundert, trachteten
auch die im viktorianischen Glasgow danach, eine Architektur zu kreieren,
die dem Ruf ihrer Stadt würdig sei. Nur allzu oft tendiert man dazu,
Glasgow auf die Liste der häßlichsten Städte zu setzen, als
sei sie bloß ein Haufe von Elendsbehausungen. Die Glasgower Stadtlandschaft
verdankt jedoch einiges zweien der größten Architekten ihrer Zeit,
nämlich Alexander »Greek« Thomson und Charles »Rennie« Mackintosh.
Letzterer, ein umstrittenes Genie, hinterließ zwar nur wenige Spuren
in seiner Geburtsstadt, wie seine School of Art in der Renfrew Street,
ein weltweites Meisterwerk moderner Kunst, ersterer dagegen, ein klassischeres
und fruchtbareres Talent, übersäte die Stadt förmlich mit seinen
nüchternen und eleganten neugriechischen Kompositionen: die Kirchen in
der Caledonia Road und der Saint-Vincent Street, die Büro- und Lagerhäuser
an der Gordon Street (Nr. 68-80), der Union Street (84-100) und der Sauchiehall
Street (336-56), und vor allem mehrere terraces, von denen die geschmackvollste,
Great Western Terrace, in den frühen sechziger Jahren fast einer
Schnellstraße gewichen wäre.

Wer sich einmal eine beliebige Straße zwischen Saint-Vincent Street
und Sauchiehall Street (Fußgängerzone) vornimmt, wird ein homogenes
Ensemble viktorianischer Gebäude (terraces, Banken, Clubs, Kirchen)
in überaus gelungener Ausführung bewundern können, die aber
in tiefer Trauer stehen: eine gute, wirkungsvolle Reinigung und schon sähe
das Gesicht der Stadt ganz anders aus. Wer sich traut, ganz im westlichen
Teil dieses Stadtviertels jene Lärm- und Abgasspalte zu überqueren,
zu der Charing Cross geworden ist, wird für seine Tapferkeit belohnt,
sobald Kelvingrove Park erreicht ist und somit auch das andere Zeugnis viktorianischen
Wohlstands, The Museum and Art Gallery.