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Geburt einer Nation

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Geburt einer Nation

Aber: als der »Wald von Birman auf Dunsinane zugeht«, ist es mit der keltischen
Vorherrschaft vorbei. Malcolm II. Canmore (von Gälisch ceann mor,
großer Kopf), im Jahre 1058 Nachfolger des von Shakespeare so verleumdeten
Macbeth, kehrt aus seinem englischen Exil ziemlich überheblich zurück,
geblendet vom Pomp am Londoner Königshof. Er heiratet in zweiter Ehe
Margarete, eine in Ungarn aufgewachsene sächsische Prinzessin, deren
Bemühungen zur Wiederbelebung der Schottischen Kirche – was ihr nach
ihrem Tode ihre Heiligsprechung einbringen wird – dem Land internationales
Prestige bringt. Aus einem nordischen Königreich, verloren am Rande der
zivilisierten Welt gelegen, irgendwo zwischen den Nebeln Irlands und dem kaum
oberhalb des Heidentum stehenden Norwegen, entwickelt das Königspaar
einen souveränen europäischen Staat, ausgestattet mit einem zentralistischen
Verwaltungs- und Rechtsapparat. Ihr Sohn und Nachfolger David I. vollendet
dieses Werk geopolitischer Neuzentrierung. Die Normannen brauchen Schottland
erst gar nicht zu erobern, sie werden höflich dazu aufgefordert, sich
dort niederzulassen. Den Baliols, Barclays, Bruces und Comyns, den Gourlays,
Grants, Frasers, Melvilles, Oliphants, Viponts, Sinclairs und anderen normannischen
Familien bietet man Titel, Ämter und Ländereien an als Gegenleistung
für ihre Unterstützung im Rahmen des Lehnswesens. Die Bewilligung
von königlichen Chartas in mehreren Orten begünstigt den Handelsaufschwung,
sogar so beträchtlich, dass man die Einwanderung flämischer
und englischer Händler fördert. Die Sprache letzterer hat bereits
in den alten nordhumbrischen Besitztümern Fuß gefaßt und
verbreitet sich innerhalb kurzer Zeit im Hauptteil der Lowlands.

Durch sein Bestreben, im Schutze eines Dynastiestreits seine Oberhoheit
auf die gesamte Insel auszudehnen, beschleunigt Eduard I. von England die
Vereinigung der Schotten zu einem einzigen Volk, zu einer einzigen Nation.
Wie so oft ist die Aggression von außen recht aufschlußreich für
das Nationalgefühl und schweißt die Bewohner zusammen.

William Wallace, ein kleiner Landbesitzer normannisch-walisischer Herkunft,
führt in den letzten Jahren des zwölften Jahrhunderts den Volkskampf
gegen die Eroberer. Er wird zwar gefangen genommen und in London entmannt
und gevierteilt, aber das schwächt den schottischen Widerstand keineswegs.
Der Thronanwärter Robert Bruce läßt sich in Scone zum König
krönen und führt einen richtigen Guerillakrieg zur nationalen Befreiung
gegen die Engländer. Dieser findet 1314 in den Sümpfen von Bannockburn
seinen Höhepunkt, beim Stirling Castle, wo Robert Bruces Bauernarmee
die doch zahlen- und waffenmäßig stark überlegenen Truppen
unter Eduard I. vernichtend schlägt.

Jedes Jahr im Juni feiert die SNP den Jahrestag dieses entscheidenden Kampfes
in Form einer großartigen Versammlung auf dem Schlachtfeld, zu Füßen
der Reiterstatue des Siegers. Vergeltungssüchtige Nostalgie, Chauvinismus
aus einer anderen Zeit, heftiger Nationalismus, an dessen Ende sich der Faschismus
abzeichnet? Nichts ist weniger gewiß, denn Bannockburn ist wesentlich
mehr als ein einfacher Sieg gegen die Engländer. Bannockburn symbolisiert
die Geburt eines wahrhaftigen Nationalgefühls im Volke, eines mit dem
Freiheitsideal eng verbundenen Patriotismus. Die 1320 in Arbroath versammelten
schottischen Barone – zu einer Zeit also, in der die Treue gegenüber
einer Person als nobler galt als die Loyalität gegenüber dieser
puren Abstraktion, welche die Vorstellung von der »Nation« noch war – verfaßten
an die Adresse von Papst Johannes II. die Erklärung von Arbroath, bekannt
unter dem hochtrabender klingenden Titel »Schottische Unabhängigkeitserklärung«:

»... Wir sind ihm (Bruce) zu Dank verpflichtet und entschlossen, ihm in allen
Dingen zu folgen, sowohl wegen seiner Rechte als auch wegen seiner Verdienste,
da er der Mann ist, der die Sicherheit des Volkes wiederhergestellt hat und
dessen Freiheit verteidigen wird. Wendet er sich aber von dem von ihm begonnenen
Werk mit der Absicht ab, uns oder unser Königreich dem König von
England oder dem englischen Volk zu unterwerfen, so werden wir ihn sofort
als Verräter an seinen und unseren Rechten verjagen und einen anderen
König aussuchen, der fähig ist, uns zu verteidigen. Denn solange
noch hundert von uns lebendig sind, werden wir uns niemals und unter keinen
Umständen der Herrschaft der Engländer unterwerfen. Wir kämpfen
weder für Ruhm noch für Reichtümer, sondern einzig und allein
für die Freiheit, die kein Mann, der dieser Bezeichnung würdig ist,
freiwillig verliert, es sei denn, zusammen mit seinem Leben.«

Welch ein Unterschied liegt zwischen diesem Meisterstück aus dem schottischen
Mittelalter und der Magna Charta von 1215, dem zentralen Dokument des englischen
Mittelalters: ein Schrei nach Freiheit im Norden, eine Liste mit Privilegien
im Süden!