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East Side

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Lower East Side

Pendant zu Greenwich Village.

Wem Greenwich Village zu steril ist, der flieht zum Saint Marks Place, wo man wirklich etwas für seine Dollar geboten bekommt. Nirgendwo sonst in New York treten die sozialen Gegensätze in der Bevölkerung so kraß zutage, während gleichzeitig überraschend viele Berührungspunkte vorhanden sind. Wenngleich am Rande des Untergangs, so will man doch um jeden Preis leben. In den alten, ukrainischen Cafés scheinen sich Punks und alle möglichen anderen Außenseiter wunderbar mit den Einwanderern aus Osteuropa zu verstehen. Regelrechte Einwanderungswellen haben in der Vergangenheit Ukrainer, Polen, mitteleuropäische Juden, Iren, Italiener und schließlich die Puertorikaner in der Lower East Side an Land gespült. Zu diesen »echten« Ethnoemigranten gesellten sich seit eh und je die Außenseiter und Exzentriker der amerikanischen Gesellschaft: Jazzmusiker, Dichter, Schriftsteller sowie Künstler aller Schattierung – Kate Miller wohnt übrigens 295 Bowery. In den sechziger Jahren zogen dann die Hippies zu; die Punks bilden vorläufig in dieser Reihe die letzten Neuankömmlinge.

Milos Forman ließ für seinen Film Ragtime im Viertel um die 11th Street noch einmal vergangene Zeiten wachwerden. Die Geschäfte sind dreißig, fünfzig oder gar achtzig Jahre alt, aber ihr Aussehen hat sich nur geringfügig gewandelt: Buchläden mit kostbaren antiquarischen Exemplaren, Italiener mit reichhaltigem Angebot, Secondhandläden, kleine Kunsthandwerker ... Eine Kostprobe der Kuchen bei Veniero´s (342 E 11th Street) wird alle überzeugen. Viele Boutiquen haben ausgedehnte Öffnungszeiten, und die Bürgersteige der 1st und 2nd Avenue werden häufig von wilden Flohmärkten okkupiert.

Traditionell müssen alle Entwicklungen der »Gegen-Kultur« in der Lower East Side ihre Feuerprobe bestehen. In der Kirche St. Mark-in-the-Bowery läßt der Pastor, natürlich außerhalb der Gottesdienste, Theaterstücke und Lyriklesungen, zum hellen Entsetzen der Frömmler steigen, die nun zum Beten woanders hinpilgern müssen. Das PS 122, dereinst eine in eine Tanz- und Theaterbühne umgewandelte Schule, hat sich zu einem der kreativsten Orte in Manhattan entwickelt. Die off-off-theater bringen ganz hervorragende Stücke auf die Bühne. Immer mehr junge Designer und Modemacher lassen sich in der Gegend nieder. Astor Place gibt den Ton in Sachen Haarschnitt an (s. Kapitel »Läden zum Verlieben«). Die ganze Lower East Side scheint von Neu- und Wiederbelebung ergriffen zu sein.

Abgesehen von dem immer noch sehr armen und heruntergekommenen Viertel zwischen der Avenue B und D, wird das gesamte Viertel zwischen East Houston und 14th Street (und um den Tompkins Square) völlig umgekrempelt.

Dieses Viertel, in das sich zwischen 1850 und 1950 alle Einwanderungswellen ergossen, dieses Arbeiter- und Kleine-Leute-Viertel ist im Begriff, sich grundlegend zu wandeln. Die Grundstücksspekulation hat ungeheure Ausmaße angenommen. In ein und demselben Gebäude kann es vorkommen, dass zwei winzige Studios von derselben Größe entweder 200 $ oder 1000 $ kosten, je nachdem ob es sich um eine alten irischen, ukrainischen, puertorikanischen ... Mieter oder um einen Yuppie handelt. Ein paar Jahre noch wird dieses Nebeneinander zwischen altem und neuen Lebensstil, diese Mischung unterschiedlichster sozialer Gruppen währen, die das Viertel so faszinierend macht.

Das Aufeinanderprallen von Reichtum und Armut, von Kulturen, spiegelt sich in der Kunst wider. Dazu eine kleine Anekdote: aus frenetischem Avantgardismus und Heißhunger nach neuen Ausstellungsräumen wurden in den letzten fünf Jahren einige Dutzend Kunstgalerien hier eröffnet, von denen die meisten wieder schließen mußten. Die großen Galerien in Greenwich und Soho taten nämlich ihr Bestes, um diese Ausweitung zu sabotieren. Aber es war offensichtlich auch einfach noch zu früh. Das Viertel hatte sich noch nicht normalisiert (Kriminalität, Drogen usw.). Es gibt sogar eine Moral von der Geschicht: Pläne, selbst intuitiver Art, müssen dem Tempo der soziologischen Veränderungen angepaßt sein. Im August 1988 schlossen die Behörden auf Verlangen der neu angesiedelten Yuppies nachts den Tompkin Square und vetrieben die Penner, die dort seit Jahren Zuflucht suchten. Ihr Widerstand und die Brutalität, mit der die Polizei darauf reagierte, radikalisierte die ansässige Bevölkerung von neuem in ihrer Ablehnung der »gentrification« ihres Viertels. Kurz und gut, dieses lebt und vibriert und ist noch immer voller fesselnder Widersprüche.

Der Versuch lohnt sich, in das faszinierendste »Rattenloch« der Lower East Side namens Pyramid reinzukommen, fünf Minuten vom Tompkins Square entfernt. Der Doorman, als »Alleinherrscher« der mächtigste Mann vor Ort, kontrolliert und sortiert die Gäste ganz nach Lust und Laune ... Drinnen herrscht eine unbeschreibliche Atmosphäre. Alle Typen, alle Stile sind vertreten: verbrauchte, leichenblasse oder über und über geschminkte Gesichter, irrsinnige Aufmachungen, »Irokesenschnitt«, zwölf Ohrringe und ebensoviele Tätowierungen; gay und straight, punkig und bourgeois. Schwermütige Weltuntergangsmusik im feucht-schwülen Klima einer äquatorialafrikanischen Spelunke.

Zwecks Entspannung könnten unsere Leser ja zwischendurch immer mal ein Gläschen im Varzac trinken (7th, Ecke B Avenue), einer der liebenswertesten Kneipen in der Gegend. Seit 1933 hat sich nichts verändert, weder der lange Tresen in Hufeisenform noch die nikotingeschwärzten Wände. Die Klientel reicht von den Senioren des Viertels bis zu den, auf das billigste Bier in New York erpichten, Gewohnheitstrinkern. An der Wand erinnert ein Foto vom Wirt zusammen mit Paul Newman daran, dass das Varzac des öfteren als Schauplatz für Spielfilme hergehalten hat.

Chelsea

Ein ruhiges Viertel, das schon einen Vorgeschmack auf Greenwich Village gibt: gepflegte, baumgesäumte, Straßen, drei- bis vierstöckige Backsteinbauten. Der Name geht auf das gleichnamige berühmte Londoner Viertel zurück, das ein gewisser Clement Clarke Moore in New York mit dem Chelsea Square nachzuahmen suchte. Wir schlagen zum Kennenlernen als klassischen Spaziergang vor, einmal das Viereck von der 22nd bis zur 19th Street zwischen der 9th und 10th Avenue abzulaufen. In den zwanziger Jahren ließen sich hier die ersten Kinos und eine Künstlerkolonie nieder; und davon liegt noch ein klein wenig was in der Luft. Der Stadtteil ist wie geschaffen, um abends eine Kleinigkeit essen zu gehen. Da etwas außerhalb gelegen, bietet er obendrein den Vorteil, nur von wenigen Fremden bevölkert zu sein. Und warum sollte man nicht mal die eine oder andere Nacht im Chelsea Hotel verbringen, wenn dazu der Zaster noch reicht (s. Kapitel »Unterkunft«).