Verschollen

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Tage des Bangens und des Schreckens

Verbindungsstraßen zwischen Madang und Begesin

Die Kiaps kommen aus Usino

Bald danach sagten sich die kiaps zu Besuch an und wir waren in heller Aufregung. Kiap, das war bis zur Unabhängigkeit Niuginis im Jahr 1975 ein Beamter der australischen Regierung, die das Land bis dahin verwaltete. Ein kiap stellte Ausweispapiere aus und hatte sogar die Befugnis zur Rechtsprechung. „Unsere“ kiaps waren drei herrlich verrückte Kerle, zwei Australier und ein Engländer, der von den beiden Australiern als Pommy bastard bezeichnet wurde – warum, weiß ich bis heute nicht. Sie wohnten etwa einen Tagesmarsch von uns entfernt in Usino, einer Außenstation der Regierung, und wir hatten sie gleich nach unserem Antritt in Begesin dort besucht. Auch sie waren einmal bei uns zu Besuch gewesen, hatten unser deutsches Essen hochgelobt, waren aber darüber nicht eben erbaut gewesen, dass wir keinen Alkohol im Haus hatten. Sie soffen alle drei wie die Löcher! Als sie sich nun über Funk für die kommende Woche als Besuch anmeldeten, schauten wir uns betreten an. Wieder hatten wir keinen Alkohol im Haus – mussten diese trinkfreudigen Männer nicht vermuten, das sei Absicht? Wir hatten aber durchaus die Absicht, diese herrlich verrückten Kerle echt und nach ihren Vorstellungen zu bewirten. Michael kam die rettende Idee: für Donnerstag der folgenden Woche hatten sich die drei „Verrückten“, wie wir sie nannten, angekündigt und am Dienstag zuvor sollte ein balus, ein Flugzeug, kommen. Der Bau der Straße, die einmal Madang und Begesin verbinden sollte, war schon so weit fortgeschritten, dass man von Madang aus nur noch ungefähr einen Tagesmarsch bis Begesin brauchte. Er wollte mit dem für sieben Uhr morgens angekündigten Flugzeug nach Madang fliegen, Getränke in einem der bottle shops, den Läden für alkoholische Getränke, einkaufen, und sich noch am gleichen Tag auf den Rückmarsch nach Begesin machen. So wollten wir es machen! Inzwischen setzte vermehrt Regen ein, aber wir waren der Meinung, es könne noch gelingen.

Am darauf folgenden Dienstagmorgen kam pünktlich das Flugzeug angeschwebt und Michael bestieg es, wie geplant, mit leerem Rucksack. In Madang sollte er dann gefüllt werden. Ich machte mir weiter keine Gedanken, denn Michael war in letzter Zeit häufig auf Buschtrip gewesen und war inzwischen mit dem Dschungel gut vertraut. Nach dem Abflug der Cessna nahm mein gewohnter Tagesablauf mich in Anspruch, und ich kam gar nicht dazu, mir über Michael Gedanken zu machen. Erst bei Anbruch der Nacht wurde ich unruhig. Es regnet zum Glück nicht, versuchte ich mich zu beruhigen, und meinte, jeden Moment müsse Michael hereinkommen und die bösen Geister der Sorge vertreiben. In meiner Verzweiflung bat ich Yagamar, sie möge zu Butut gehen, und ihm die Lage erklären – er würde sicher wissen, was zu tun sei. Zurückgekehrt, erklärte sie mir, Butut habe sich mit ein paar Schülern im Schein starker Lampen auf den Weg gemacht. Sie wollten Michael entgegengehen und nach ihm rufen, sicher würde er antworten, wenn er nicht zu weit entfernt sei. Nach etwa zwei Stunden kam Butut mit betretener Miene zu mir, und berichtete von der Erfolglosigkeit seiner Unternehmung. Voller Unruhe brachte ich an diesem Abend Amos zu Bett. In seinem Zimmer meinte dieses wunderbare Kerlchen: „Ist wie Papa auf Buschtrip, ich schlaf bei dir in Papas Bett!“ Zur Funkzeit saß ich am Radio und meinte, irgendjemand aus Madang würde mir eine Nachricht zukommen lassen – nichts geschah. Am späten Abend sah ich draußen wieder den Schein einer Kerosinlampe, und wusste, ich war nicht allein: Sinaraum passte auf seine Mama und ihr Kind auf. In der Nacht suchten mich Alpträume heim, ich sah Michael, von einer Schlange gebissen, sterbend auf einem Buschpfad liegen. Entsetzt schrak ich aus meinem Traum, glaubte, Geräusche an der Haustüre zu hören, ging im Schein meiner Taschenlampe nachsehen – nichts war zu sehen. Zurück im Bett, streckte ich meine Hand nach Amos aus, fühlte seine warme Haut, und sah mich schon als Witwe, einsam und allein mit meinem Kind, nach Deutschland zurückreisen.


Am nächsten Morgen brauchten mich die Vögel, über deren Geschrei ich mich so oft erbost hatte, nicht zu wecken. Ich empfand ihr Schreien eher wie einen Morgenruf. Wie befreit sprang ich aus dem Bett, stellte mich unter meine Eimerdusche, und spülte einen Teil der nächtlichen Angst von mir ab. Pünktlich um sieben Uhr saß ich vor dem Funkgerät, hörte die vertrauten ersten Durchsagen und wartete auf meinen Einstieg. Das Mikrophon in der Hand wollte ich gerade „Foxtrott Sierra“ anmelden – als die Türe sich öffnete und ein sichtlich erschöpfter Michael eintrat. Amos fiel seinem Papa wie immer bei einer Heimkehr jubelnd um den Hals, ich schloss beide in meine Arme, und die Familie war wieder komplett. „Ich bin keine Witwe geworden“, schluchzte ich, „ihr seid ja beide noch da“! Ich glaube, dann habe ich erst einmal Kaffee aufgesetzt.