Tschernobyl

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Allgemeine Fassungslosigkeit

Besorgniserregende Anrufe aus Baitabag

Das Leben geht weiter, auch in Niugini

Roswitha rief mich früh am Morgen aus Baitabag mit kippeliger Stimme an: „Jochen hat gerade Deutsche Welle gehört. Es hat ein fürchterliches Unglück gegeben! Habt ihr schon etwas davon gehört?“ Langsam, stockend, brachte sie System in ihr Entsetzen, sie erzählte von einem Atomkraftwerk in der Sowjetunion, in der Ukraine, in dem es einen Super-Gau gegeben habe. GAU stehe für „größter anzunehmender Unfall“, ganz Europa sei von der atomaren Strahlung verseucht, es werde viele Jahre dauern, bis diese üble Strahlung abebben werde. Verstört legte ich den Hörer auf.


Ich berichtete Michael von dem Gehörten. Wir beschlossen, gegen Abend bei meinen Eltern anzurufen, um Näheres zu erfahren, denn jetzt lagen sie mit Sicherheit noch im Bett. In Deutschland war es mitten in der Nacht. Wir saßen zusammen und versuchten, uns zu erklären, was so ein Supergau nach sich ziehen könne. Die Worte fehlten uns, wir brachten nichts zustande, das einen Sinn ergeben hätte. Zunächst war ich nur heilfroh, so weit ab vom Geschehen in Deutschland zu sein; hier, in einem Land, das dort „Wildnis“ genannt wurde, konnte meinen Kindern nichts geschehen, glaubte ich. Michael hörte noch einmal Deutsche Welle, und kam mit besorgter Miene zurück, nicht viel klüger als vorher. Anscheinend sei dort die Hölle los, meinte er, alles, was er gehört habe, sei voller Widersprüche.


Die Zeit verstrich schleichend, endlich, am Nachmittag, hielten wir es nicht mehr aus und meldeten uns beim Telefonamt an, um meine Eltern anzurufen. Meine Mutter stand offensichtlich unter Schock, sie konnte uns nicht viel mehr mitteilen als das, was wir bereits über die Deutsche Welle wussten. Das Land liege im Koma, meinte sie, das einzig Sichere sei, dass nichts mehr so war, wie es vorher gewesen war. Ständig gebe es in den Nachrichten neue Verhaltensmaßregeln, wie: die Fenster geschlossenzuhalten, sich möglichst wenig im Freien aufzuhalten, die Kinder auf keinen Fall im Sandkasten spielenzulassen, da Sand die Strahlung am schnellsten aufnehme. Pilze würde man in Deutschland für viele Jahre nicht essen können, Wild auch nicht, warum, das könne sie sich auch nicht erklären. Traurig klagte sie: „Es ist so ein schöner, milder Frühling draußen, ich kann kaum glauben, dass der Salat und das Gemüse im Freien nicht essbar sein sollen, wie uns in den Nachrichten erzählt wird, man sieht jedenfalls nichts davon.“


Nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte, sahen wir uns fassungslos an – Deutschland war offensichtlich im Chaos versunken. Ich bäumte mich auf gegen die Hoffnungslosigkeit, die sich in uns breitmachen wollte und erinnerte Michael daran, wie wir die Nachrichten im Heimaturlaub empfunden hatten, wie die deutschen Medien in der Regel jedes Thema breitwälzten und ausschlachteten. Was blieb, war tiefe Ratlosigkeit.


Roswitha und Jochen kamen mit ihren Kindern zu uns, wir überlegten gemeinsam, was wir hier am anderen Ende der Welt tun könnten. Uns fiel nur ein, dass es etwas Ritualhaftes sein müsse. Nacheinander duschten wir, was uns wie eine angebrachte Reinigungszeremonie vorkam. Dermaßen gereinigt, pilgerten wir mit Kerzen in die Pyramide hinter dem Haus und setzten uns, einander an den Händen haltend, in einem Kreis zusammen. So saßen wir lange schweigend, jeder seinen eigenen Gedanken nachhängend. Es geschah nichts Besonderes, aber am Ende fühlten wir uns alle etwas leichter. Danach war auch für uns nichts mehr so, wie es vorher gewesen war.