Umstände

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Absolute Demoralisierung

Prügeln? – Hier an der Tagesordnung

Veränderungen erschreckender Natur

Später gingen wir in der Innenstadt ein Eis essen bei „Paulchen“, wie der deutsche Besitzer des Cafes liebevoll genannt wurde. Wibke, Marina und Gunnars Jüngste, landete gleich wie selbstverständlich auf dem Schoß von Paulchen und wurde von dem redefreudigen Schwulen liebevoll begrüßt. Hier trafen sich viele Weiße und es wurde meist heftig der neueste Stadtklatsch ausgetauscht. Wieder kam es Michael und mir vor, als könne an dem gestern Gehörten nicht allzu viel dran sein. Das änderte sich schlagartig, als wir gehen wollten. Gerade setzten wir an, das klimatisierte Café zu verlassen, als Paulchen an die Glasscheibe trat und hinausblickend meinte, wir sollten lieber noch ein wenig bleiben. Im Nu standen wir alle an der Scheibe: auf der anderen Straßenseite prügelten Polizisten in Uniform mit Schlagstöcken auf zwei Einheimische ein, die sich unter den Schlägen duckten und so laut schrien, dass es sogar durch die klimatisierten Scheiben zu hören war. Aus großen Reissäcken, die beide Einheimische unter den Armen trugen, rieselten unter den Schlägen Reiskörner in den Straßengraben; ein daneben stehender alter Chinese fuchtelte mit einem Stock herum, als wolle er ebenfalls auf die beiden einschlagen. Ich setzte gerade an, mich über die Brutalität zu erregen, die da vor unseren Augen ausgeübt wurde, als ich hörte, wie Marina und Gunnar sich mit Paulchen unterhielten. „Die haben anscheinend mal wieder versucht, raskol-mäßig einzukaufen“, sagte Gunnar gerade. „Und der alte Saina, Chinese, hatte da was dagegen einzuwenden“, meinte Paulchen daneben. Marina murmelte erbittert: „Ich habe es zum Knochenkotzen satt, was in dieser Stadt abgeht … “. Als Gunnar die Kinder kurz danach mit „schnell, schnell“ zum Auto scheuchte, fielen wir bereitwillig in den Eilschritt ein und spurteten zum Kleinbus.

An diesem Abend rieten wir Gunnar dringend, bei der Kirchenleitung um eine Versetzung in eine sicherere Gegend zu bitten, was er dann auch tat. Aber es sollte für die Familie noch fast sieben unerträgliche Monate dauern, bis sie sich aus der Situation der absoluten Demoralisierung lösten und sich neu definieren konnten. Marina schrieb mir drei Monate später: „ … der kirchlichen Nichtentscheidungen gibt es gar viele, vielleicht können wir in ein paar Monaten in das als sicher geltende Viertel des Martin Luther Seminary umziehen“. Der Urlaub in Lae wurde trotz all der Widrigkeiten ein richtiger Urlaub, vor allem konnten ihm unsere Kinder viel abgewinnen. Für Janna und Talina bedeutete er insbesondere ein Wiedereintauchen in die bunte Welt ihrer Phantasie. Die beiden Mädchen zogen sich von uns anderen zurück in ihre ureigenste Welt. Alle erkannten das und ließen sie glücklich gewähren. Paradoxerweise konnten wir in Lae nicht unse alte Gewohnheit des Zusammensitzens vor dem offenen Feuer aufgreifen. Ausgerechnet in einem Land, in dem „draußen“ als der natürlichste Aufenthaltsort erschien, verbrachten wir die Abende im Haus. An den Nachmittagen gingen wir außerhalb von Lae im Meer baden und sangen im Verlauf der Abende mit den Kindern alle uns bekannten Lieder. Marina und ich erinnerten uns an den Nachmittag in Aseki, an dem sie mir erzählt hatte, sie wünsche sich jemanden „auf eine Tasse Kaffee“ herbei. Bitter klagte sie jetzt: „Stell dir vor, inzwischen wird Aseki mit Flugzeugen voller Touristen angeflogen. Die smoke bodies, die Räucherleichen, sind zur häufig fotografierten Touristenattraktion geworden!“