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Morbide Faszination

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Friedhöfe, Todesviertel und Blutmale

Morbide Faszination einer Stadt

Sanità-Viertel und Cemitero delle Fontanelle: ist wahrscheinlich das »ungesündeste« Viertel nicht nur Neapels, sondern ganz Europas. Der Tod geht hier ein und aus: nicht nur, weil die Kindersterblichkeit höher liegt als irgendwo anders in Italien, sondern weil hier die Camorra – so nennt sich die neapolitanische Spielart der Mafia – ihr Hauptquartier aufgeschlagen hat. Taxifahrer, ja Polizisten, weigern sich häufig, in dieses unübersehbare Gewirr aus Gassen und Hinterhöfen einzudringen.

Da fügt sich der unterirdische Brunnenfriedhof nahtlos ein: in einer gut siebzig Meter langen Höhle lagern hunderttausende Menschenknochen und fein säuberlich übereinandergeschichtete Totenköpfe – makabre Ernte der im 17. Jahrhundert wütenden Pest. Einheimische haben uns berichtet, für die Pflege der Gebeine könne man sich eine Eintrittskarte ins Himmelreich verschaffen. Ein Pfarrer führt Besucher durch diese düstere Stätte.

Cimiterio del Pianto: Friedhof, leider etwas außerhalb, mit monumentaler Architektur, wo auch das Grab Enrico Carusos zu finden ist. Jeder echte Italiener wird uns aber zunächst zur letzten Ruhestätte des Komikers Toto geleiten. Wehe, man schießt kein Foto und verharrt nicht mit der gebotenen Rührung!

Am Meeresufer: um das Castel dell´Ovo, das dem berühmten Lucullus gehörte, erstreckt sich das Viertel der einst schicken, heute eher heruntergekommenen Hotels. Die Atmosphäre ist besonders abends trostlos.
Gregorovius, größter Italienkenner des 19. Jhs, beschrieb nicht nur das von Friedrich II. ausgebaute Kastell, sondern auch das Fischerviertel Santa Lucia, später Opfer der Hotelpromenade. Damals war der Küstenstreifen von Buden und Fischern belebt. In einem Gewölbe in den Tuffelsen sprudelte eine Schwefelquelle.

»Vom frühen Morgen bis in die späte Nacht schöpfen dies Heilwasser Weiber und Mädchen in Gläsern und bieten den Trank aus. Man sitzt auf Stühlen umher, man trinkt ein Glas des mineralischen Wassers und ißt dazu kleine Kringel. Von allen Seiten strömen Besucher, von der Stadt her, wie aus den Barken, welche kommen und gehen.«

Ende des 18. Jhs war die Quelle so beliebt, dass Ferdinand IV. befahl, das Wasser jedermann zugänglich zu machen, augenscheinlich eine Vorbeugungsmaßnahme gegen damals schon unternommene Privatisierungsversuche. 1880 verzeichnet sie der Baedeker noch neben einem Badehaus, wo man für geringen Eintritt im Schwefelwasser baden konnte. Später fielen dem Bau der Via Chiatamone die Tuffgrotten zum Opfer, was also bedeutet, dass das Meer bis dahin reichte. Die Quelle aber wurde gefaßt und blieb den Wasserverkäufern, den »Acquaioli«, zugänglich, die malerische Stände hatten, oder das Wasser als »Herumträger« (Goethe) feilhielten. Auf jeden Fall waren die Acquaioli große Kenner der verschiedenen Qualitäten der zahlreichen vulkanischen Quellen. Das »Acqua Ferrata« der Via Chiatamone blieb ein geschätzter Verdauungstrank, bis der vereinte Angriff von Cholera und Coca-Cola ihm – wie 15.000 Straßenhändlern mit Muscheln, Getränken und Eßwaren – 1973 den Garaus machte. Wer nicht auf abgefüllte Einerleigetränke umgestellt hatte, wurde unter dem Vorwand der Cholera zur Geschäftsaufgabe gezwungen. Wenn überhaupt noch, so gibt es sehr wenige qualifizierte Wasserhändler in der Stadt. Lange Zeit war noch einer mit einem Stand in der Via S. Lucia zu finden. Existiert er noch?

Die Quelle der Aqua Ferrata wurde geschlossen, und die Erinnerung verliert sich allmählich. Die Quelle besteht aber noch, obgleich der Brunnen zur Straße hin, samt dem Gebäude, das sich einst auf dem Gelände erhob, das Hotel Continental an der Via Partenope, abgerissen wurde. An seiner Stelle errichtete die Familie Leone – Staatspräsident Giovanni Leone trat 1978 wegen Korruption zurück – über die Firma einer über achtzigjährigen Dame ein Appartementhaus. Als Aktionäre des Unternehmens tauchten die Mitglieder der feinen Gesellschaft neapolitaner Spekulanten und Baulöwen auf. Dort sprudelt die Quelle gut eingefaßt im Keller. Wer teilt uns mit, was heute daraus geworden ist?

Das »Blutwunder« von Neapel

Verflüssigt sich das Blut des neapolitanischen Schutzpatrons St. Januarius nicht dreimal jährlich pünktlich am 19. September – das ist der Tag, an dem San Gennaro im Jahr 305 zur Zeit der Christenverfolgungen unter Kaiser Diokletian enthauptet wurde – am 16. Dezember und am Samstag vor dem ersten Sonntag im Mai, hat das für die (aber)gläubigen Bewohner der Hafenstadt nichts Gutes zu bedeuten. Die »wunderbare« Verflüssigung des in einer Ampulle aufbewahrten Lebenssaftes, seit dem Mittelalter belegt, stellt Wissenschaftler angeblich vor ein unlösbares Rätsel. Etwa weil sie mit empirischen Methoden zu Werke gehen, statt dem Sakristan einmal auf die Finger zu schauen? Wir wissen´s nicht, neigen aber zu der Annahme, dass wir´s entweder mit einem betrügerischen Hokuspokus zu tun haben, oder aber die Wissenschaftler für ihr Staunen ein kleines Handgeld ausgehändigt bekommen.