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Cannaregio

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Das Ghetto, das keines ist

Künstlerische Freiheiten in Cannaregio

Die unmittelbare Umgebung des Bahnhofs einmal ausgenommen, geht es nirgendwo in Venedig geruhsamer zu. Die fast dörfliche Stimmung wird verspätete Romantiker und poetisch Angehauchte zu ausgedehnten Streifzügen verlocken. Grob orientieren kann man sich an der Achse Terra San Leonardo-Terra Maddalena und Strada Nova, einer Art Rückgrat des Viertels. Tagsüber recht geschäftig, bieten sich immer wieder überraschende Ausblicke über die Kanäle. Nach Sonnenuntergang ändert sich der Eindruck dann grundlegend und das Cannaregio-Viertel gewinnt eine völlig andere Qualität.

Das Ghetto

Hauptzugang über die Fondamenta Cannaregio. Der Zustrom von Juden, die nach ihrer Vertreibung aus Spanien 1492 verstärkt in Venedig Zuflucht suchten, veranlaßte die städtischen Behörden im Jahre 1516, zwischen Cannaregio-Kanal und dem Rio de la Misericordia ein separates Judenviertel einzurichten. Eine Gießerei dort, auf venezianisch »Ghetto«, lieh ihm seinen Namen. Der setzte sich rasch auch für die übrigen Judenviertel in den großen italienischen Städten und schließlich in ganz Europa durch. Den Anfang in der traurigen Geschichte der jüdischen Ghettos machte jedoch Venedig. Die Ghetto-Bewohner mußten allabendlich in ihren Stadtbezirk zurückkehren, zu dem nachts Gitter den Zugang versperrten. Vier Wächter hinderten die Juden daran, nachts ihren Bezirk zu verlassen, und mußten von den Ghetto-Bewohnern selbst besoldet werden. Schlimmer noch haben es ja die Nazis getrieben, die sich von ihren Opfern die Zugfahrkarte nach Auschwitz bezahlen ließen! Die Venezianer zwangen ihre jüdischen Nachbarn auch, eine gelbe Kopfbedeckung zu tragen - auch keine unbekannte Schikane. Schließlich wurden alle Fenster zur Ghetto-Mauer hin zugemauert, zum Schutz der braven Christenheit. Da man sich bald mit Platzproblemen konfrontiert sah, wurden sechsstöckige Wohnhäuser errichtet - der Schnitt lag in Venedig bei drei Etagen - wo sich die Familien auf engstem Raum und unter menschenunwürdigen Verhältnissen zusammendrängen mußten. Auf diese Weise entstanden die ersten Hochhäuser in der Stadt.

Die Einwohnerzahl des Ghettos erreichte zu keinem Zeitpunkt besonders hohe Werte, nicht zuletzt wegen des chronischen Platzmangels. Kaum über fünftausend Menschen lebten hier, bei der Ankunft Napoleons nurmehr 1600. Die Abschaffung der Gitter und die Anerkennung gleicher Rechte für die jüdischen Bürger zählen zu den wenigen positiven Auswirkungen des französischen Expansionsdrangs unter Napoleon. Ein Fünftel der verbliebenen venezianischen Juden wurde während des letzten Krieges deportiert. Derzeit beläuft sich die jüdische Gemeinde auf knapp 650 Menschen, von denen die meisten nicht im Gebiet des ehemaligen Ghettos wohnen. Nur noch etwa vierzig Gläubige besuchen die Synagoge.

Das Viertel gliedert sich in zwei Bereiche: Ghetto Vecchio und Ghetto Nuovo. Zum Ghetto Vecchio gelangt man über die gleichnamige Straße und anschließend über die Fondamenta Cannaregio. Bis heute erkennt man die Stelle, wo früher die Gitter angebracht waren. An einem kleinen Platz, dem Campiello delle Scuole, erheben sich die beiden Hauptsynagogen: Scuola Spagnola und Levantina. Es handelt sich um die ältesten Europas. Zwecks Besichtigung wende man sich an das Museum am Campo di Ghetto Nuovo; dort erhält man eine Eintrittskarte für eine der meist englischsprachigen Führungen um 11, 12, 15 oder 16h (theoretisch).

Scuola Spagnola: größte aller venezianischen Synagogen, genannt auch die »Sommersynagoge«. Im 16. Jh. von spanischen Juden errichtet, verfügt sie im Inneren über ein reiches Dekor überwiegend venezianischer Inspiration. Tatsächlich war damals allen daran gelegen, so weit wie möglich jeden Bekehrungseifer zu vermeiden. Das Ganze wirkt reichlich theatralisch, mit viel Gold, Rot, Marmor.

Die Scuola Levantina fällt deutlich kleiner aus. Hier handelt es sich um die für unseren Geschmack hübscher ausgestaltete »Wintersynagoge«. Wir verweisen nur auf die geschnitzte Holzdecke und den herrlichen »Bimàh« (Kanzel, ca. 1650), eine kunstvolle Goldschmiedearbeit, die dem berühmten Holzschnitzer Andrea Brustolon zugerechnet wird. Hier gelang ihm eine perfekte Verbindung zwischen venezianischer und jüdischer Kunst. Zwei schneckenförmige Stiegen, gleichfalls aufwendig verziert und von zwei gedrehten Säulen gestützt, führen zur Kanzel hinauf, wo Blumen- und Pflanzenmotive ihre Pracht entfalten.

Das Ghetto Nuovo ist ganz von Kanälen umgeben. Eigentlich ein Widerspruch, aber seine Bezeichnung ändert nichts daran, dass es sich um den älteren Teil des Ghettos handelt. Hier wurden 1516 die ersten aschkenasischen (mittel- und osteuropäischen) und »italienischen« Juden eingesperrt. Typisch für das Viertel ist der geräumig-offene Campo. Nichts oder fast nichts hat sich verändert, bis auf die Tatsache, dass einige Bauten dem »Israelitischen Erholungsheim« weichen mußten. Selbst der Sitz der Banco Rosso mit der Hausnummer 2911 befindet sich an seiner alten Stelle es handelt sich um eine der drei mittelalterlichen Geldverleihinstitute in Venedig, wo eine »rote«, »grüne« und eine »schwarze Bank« das Kreditwesen bestritten. Hierzu muß man wissen, dass es Christen von ihrer Religion ja verboten war, bei Geldgeschäften Zinsen zu verlangen - inzwischen soll´s ja sogar fromme Bänker und Zöllner geben, von der Vatikanbank ganz zu schweigen! Drei weitere Synagogen - Scuola Italiana, Canton und Grande Tedesca - säumen den Platz.

Einen Besuch des Museums für Hebräische Kunst nicht auslassen; geöffnet ist von 10.30-13h und von 14.30-17h (feiertags 10.30-13h); keine Besichtigung samstags und an hebräischen Feiertagen. T. 71 53 59. Hier gibt´s auch die Eintrittskarten für die Synagogen. Das Museum präsentiert eine einzigartige Zusammenstellung von Kultobjekten, religiösen Goldschmiedearbeiten, Stoffen, Manuskripten usw. Unter den Exponaten auch Parokhoth (alte Schleier), Tasim (Schmuckelemente der Thorarollen) sowie' Ataroth (Silberkronen).

Wir verlassen das Ghetto, indem wir vom Museumsausgang rechts der Sopportego di Ghetto Nuovo mit ihrer Holzbrücke folgen. Hier ergeben sich die spektakulärsten Eindrücke des Ghettos und seiner »Wolkenkratzer«. Nach der Brücke folgen einige von ansehnlichen Wohnhäusern gesäumte Straßen, die im 17. Jh. dem Ghetto angegliedert wurden. In der Calle del Porton tragen manche Häuser noch hebräische Inschriften. Am Ende dieser Straße stoßen wir wieder auf die Spuren jener Gitter, die allabendlich verschlossen wurden.

Madonna dell´Orto: Fondamenta di Madonna dell´Orto. T. 71 99 33. Öffnungszeiten 9.30-12 und 15-17h. Eine der schönsten und zugleich unbekanntesten venezianischen Kirchen. Für uns eine willkommene Gelegenheit, uns in diesem freundlichen Viertel ein wenig die Beine zu vertreten, wo vor noch nicht allzu langer Zeit mehr Gärten als Häuser gezählt wurden. Die Entstehungszeit der Kirche fiel ins 14. Jh. vom Baustil her ist sie der Gotik zuzurechnen, während der Campanile nebenan noch romanische Züge trägt. Wir meinen, dass die Fassade zwar weniger grandios als jene der Frari-Kirche ausfällt, dafür aber feiner in ihrem dekorativen Schmuck. Rote Ziegel und gemeißelter weißer Stein gehen eine besonders elegante Verbindung ein. An den Seitenwänden und im oberen Bereich der Fassade verläuft ein bemerkenswerter Fries mit Statuen und gotischen Motiven. Auch beim Hauptportal wurde nicht gespart: den würdigen Rahmen bilden hier der Erzengel Gabriel, der Hl. Christopherus und die Hl. Jungfrau alias »Verkündigung«. Es soll sich übrigens um das Werk jenes Meisters handeln, dem man bereits das »Salomonische Urteil« im Dogenpalast zuschreibt.

Werfen wir einen Blick ins Kircheninnere: hier herrscht schlichte Linienführung vor. Ein lichtdurchfluteter Raum, untergliedert durch gotische Backsteinbögen und teilweise noch bedeckt von den ursprünglichen Fresken. Auch von innen steht die Kirche kaum einem Museum der Schönen Künste nach.

Gleich am Eingang rechts eine »Jungfrau mit Kind« aus dem 15. Jh. von höchst kunstvoller Präzision, gefolgt von einem Meisterstück Cima da Coneglianos: »Johannes der Täufer, umgeben von Petrus, Markus, Hieronymus und Paulus«.

Den vierten Altar im rechten Kirchenschiff ziert ein Gemälde des Flamen Van Dyck, das »Martyrium des Hlg. Laurentius«. Alle dargestellten Personen sind in ein geheimnisvolles Licht getaucht. Bei der »Darstellung Christi im Tempel« von Tintoretto fällt auf, dass Licht und Schatten ein subtiles Spiel miteinander treiben und so der ganzen Szene Dynamik einhauchen.

In der Maurus-Kapelle schließlich entdecken wir die berühmte Namenspatronin der Kirche; eine »Hl. Jungfrau«, wen sonst ... Die Terrakottabüste Tintorettos weist auf dessen Grabstätte in einer der Kapellen im rechten Kirchenschiff hin.

Die bewundernswürdigsten Exponate finden sich im Chor und setzen das Vorhandensein von genügend Münzen voraus: zwei überdimensionale Gemälde Tintoretto;s. Links die »Anbetung des goldenen Kalbes«. Kuriosität am Rande: Tintoretto soll seine Kollegen Giorgione, Tizian und Veronese in den Gesichtszügen der Träger des Idols und Michelangelo als jene Gestalt verewigt haben, die sich am Gold zu schaffen macht. Witziger finden wir trotzdem das »Jüngste Gericht« gegenüber. Hier geht´s nämlich hoch her und auch gottlosen Zeitgenossen wie uns läuft's kalt den Rücken herunter. In der Bildmitte befördert der Erzengel Gabriel die verdammten Seelen in die blutroten Fluten und ins Boot des Fährmanns Charon aus der griechischen Sage (täglich dreimal Unterwelt und ... wurden niemehr gesehen). Es verschlägt uns bei einem derartigen Aufgebot an Symbolik fast die Sprache. Unten rechts im Bild gelingt es einem Engel, in letzter Sekunde seine Seele aus den Fluten der Verderbnis zu retten. Alle Personen drehen sich in einem gigantischen Maelstrom, der uns schwindlig werden läßt.

In der Apsis noch einmal Tintoretto: »Dem Hl. Petrus erscheint das Kreuz«. Und wieder staunen wir über die verblüffende, dem Gemälde innewohnende Dynamik.

Zuletzt noch in der ersten Kapelle links nach Betreten der Kirche kein Geringerer als Giovanni Bellini; mit seiner ergreifenden Darstellung der »Muttergottes mit Kind«, getränkt von einer lieblichen Gelassenheit. Ein solches Meisterwerk in einer vergleichsweise schlichten Kapelle zu finden, ist nur eines der unzähligen Wunder Venedigs!