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Im Flugzeug

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Auf dem Weg nach ...

Globale Wunder

Fabeln der Weltgeschichte

Kurz bevor ich mich auf meine Reise begab, schenkte mir ein lieber Mensch ein besonders schönes und edles Notizbuch mit schwarzem Leder und unendlich vielen weißen Seiten, in denen ich meine Reisebeobachtungen bündeln und notieren könne. Auf der Verpackung betonte der Hersteller, dass auch schon Hemingway, Picasso und Chatwin in genau diese Sorte Bücher geschrieben hatten. Na sowas, im Bunde mit großen Abenteuern, Künstlern und Forschern - sitz ich dann auch rauchend in einem Straßencafé mit meinem "heiligen" Notizblock und werde zum unsichtbaren Observator, der weder Heimat noch Hilfe, sondern nur die Wahrheit finden will?

Der gleiche liebe Mensch hat nebst dem Geschenk auch eine persönliche Widmung in das "Heiligtum" geschrieben, mit der er mich großmütterlich darauf hinwies stets "wach zu bleiben". Ich mag Großmütter und solcherart Hinweise, doch was ist eigentlich mit "wach bleiben" gemeint? Unbeabsichtigterweise, vielleicht intuitiv sehr wohl beabsichtigt, habe ich es zumindest physiologisch geschafft, die ersten 50 Stunden dieses Weges wach zu bleiben. Das lag zum einen an der Nervosität in der kurzen Nacht vor der Reise (die ich immerhin mit abwechselnder Lektüre von Goethes Goetz von Berlichingen und einem Simpsons-Comic-Megapack literarisch freizügig verbrachte) und darüber hinaus an nicht eingeplanten Flugverspätungen, einem notwendig gewordenen Flugumweg und qualvollen Warteschlangen Ecuadors Amts wegen.

Nach 35 dieser 50 Stunden hatte ich allerdings bereits verstanden, dass sich die Aufforderung "wach zu bleiben" nicht auf die Physiologie, sondern auf die Leuchtkraft meiner geistigen Wahrnehmung bezog, die je später es wurde, mehr und mehr verschwundener ging.

Immerhin hatte ich somit genügend Zeit, das ein oder andere in das schwarze "Heiligtum" zu pfeffern, und die Extrakte gibt es nun:

Das erste, was mir signifikant ins Auge sprang, waren Toblerone-Schokoladen in der Größe von Fußbällen, die es am Startpunkt Schweizer Flughafen zu kaufen gab. Erstaunlich, in welchen Dimensionen man handeln kann, wenn man über entsprechende Divisen verfügt (Für mich ein erster Hinweis der Ambivalenz im Vergleich zu weniger entwickelten Ländern?). Passend dazu berichtete die mir im Flugschiff freiherzlich überreichte Schweizer Tageszeitung, dass die Kriege im Irak und in Afghanistan die USA 1,6 Billionen Dollar kosten. Das sind 1600 Milliarden!! Kann man sich unter diesen Zahlen etwas vorstellen? Wie viele Toblerone-Fußbälle kann ich mir dafür kaufen, und sind überhaupt die Einzigen, die sich drei Kilogramm Schokolade am Stück leisten wollen, diejenigen, die Menschen in politische Ämter wählen, um andere kriegerisch zu bekehren? Huu, ich merkte schon gleich zu Beginn, das war kein Schülerausflug, bei dem ich von Bäumen und Schmetterlingen berichten werde, sondern eine wirtschaftsglobale Katastrophen-Begegnung, die an meinen kommunistischen Adern saugte.

Süd-Amerika, ich komme!

Eine weitere nicht zu unterschätzende Nachricht stand ebenfalls im Zürcher Generalanzeiger: Der Kastanienbaum vor "Anne Franks Haus" muss 150jährig gefällt werden, da der Kronenpilzbefall für die anwohnenden Bürger zu einer nicht mehr kalkulierbaren Gefahr ausgeartet ist. Hmm, ausgerechnete der Baum, so die Zeitungsnachricht, den Anne Frank vom Speicher ihres Nazi-Verstecks aus beobachtete und der ihr einen winzigen Schimmer natürlicher Größe und Schönheit offenbarte. Was muss diese Kastanie wohl gefühlt haben, hat sie die ihr entgegen gebrachte kollektive Memorial-Absicht wahrgenommen? Und was sagen die anderen Rotterdamer Kastanien dazu, die nicht wegen Pilzbefall, sondern wegen McDonalds, Lidl, Kaufhaus und Betonstraßen gefällt werden?

Hach, schon wieder so ne Sozialkritik, dabei wollt ich doch eigentlich von der Reise ...

Also gut, in Madrid hatte ich nun sechs Stunden Aufenthalt, die ich dank Metro in der königlichen Stadt verbrachte und plötzlich vor dem angeblich schönsten und wichtigsten Fußballstadion, dem Bernabeu von Real Madrid stand. Oh, was für ein Tempel! Allerdings weigerte ich mich Eintritt zu zahlen, um das leere Stadion von innen zu sehen, es kostete so viel wie drei Heimspiele des SC Freiburg. Mehr habe ich von Madrid nicht zu berichten, außer von dem Zwergpinscher am Flughafen, der genau wie ich in das Flugzeug nach Ecuador stieg und exactement die Größe der Tobelerone-Schokolade vom Züricher Flughafen hatte. Essen die in Ecuador eigentlich Hunde?

Im Flugzeug sah ich kurz nach Sonnenuntergang über den Wolken das gesamte Regenbogenspektrum, die Einzigartigkeit und Schönheit, die uns die Atmosphäre schenkt, in einer derart berauschenden Intensität von Rot, Orange, Grün und so, dass ich sogar dem anmutigen zunehmenden Mond, der schützend übt diesem Schauspiel stand, meine Aufmerksamkeit verweigerte. Diese bekam einige Stunden später der Himmelsreiter Orion, dieses wunderschöne, vielfarbige Sternbild samt Beteigeuze, Rigel und Schwert. Da staunte ich ihn von meinem Fensterplatz an war ganz verwirrt. Der gute Orion lag schief und quer in der Luft, jedenfalls sah die Konstellation in einer Höhe von 10000 Metern ganz anders aus. Ist das wirklich so oder ist das völlig unerheblich, wenn einem - unterstützt durch scheinbar fehlende Erdanziehungskraft - wieder einmal die Nichtigkeit, die Zwergenhaftigkeit unseres Planten und der unermessliche Reichtum des Universums auf der anderen Seite gegenübertritt?

Bevor ich dann mein Puploch (es müssen ja nicht immer die Füße sein) das erste Mal auf südamerikanischen Boden setzte, verlas ich mich noch in Galeanos "Die offenen Adern Lateinamerikas", einem schmerzhaften Wehgeschrei, einer unbarmherzigen Anklage über die Ausbeutung, die Unterdrückung und die Zerstörung eines Kontinentes, gedemütigt bis zum heutigen Tage durch Europäer und seit 200 Jahren auch durch US-Amerikaner. Das Buch ist fesselnder und aufrührender als viele andere, und kann in seiner Intensität höchstens noch mit Onkel Toms Hütte verglichen werden. .

Ich hab mich nie als Konquistador wahrgenommen, und doch beschleicht mich, der ich am Züricher Flughafen meine Reise begann, dieses seltsame Gefühl von Traurigkeit und Hilflosigkeit, wenn mir bewusst wird, dass genau jetzt, genau heute, nicht nur Ecuador, sondern auch seine ganzen Brüder und Schwestern im gleichen Kontinent, in Afrika oder in Asien, als billige Rohstoffquellen und Arbeitsquellen-Plantagen angesehen werden, die dazu dienen, reiche Wirtschaftsnationen noch reicher zu machen. Alle angeblichen Versuche, Gleichheit und Gerechtigkeit zu schaffen, waren und sind ein Alibi-Verhalten, dass der Konsumierende zur psychologischen Reinwaschung benutzt. (Ich wär so gerne einmal der 50-Euro-Schein, den Tante Elfriede an Weihnachten immer für Kinder in Afrika spendet. Diese Reise, ich also als 50-Euro-Schein, würde ich gerne machen, und bin mir sicher, weit würd ich nicht kommen) .

Galeano schreibt völlig zu Recht, dass die meisten Menschen, hören sie von Amerika, an die USA denken und Lateinamerika als Unter- oder Secondhand-Amerika betrachtet wird. Seit der Conquista hat dieser Kontinent, ohne gefragt zu werden, alles, ALLES, an Bodenschätzen, und davon hat er reichlichst, an Arbeitskräften, für Europa und die USA gegeben. Die den europäischen Kindern in jedem Geschichtsbuch, in jeder Fernsehsendung, erzählende Mär großer Entdecker wie Kolumbus, Vespucci oder Magellan, dieses zuckersüße, so beschwerliche und letztlich scheinbar erfolgreiche Abenteuer der Eroberung der "neuen Welt", ist eine der scheinheiligsten Fabeln dieser Erde.

Die momentanen und in der Vergangenheit existenten Terrorregimes lateinamerikanischer Länder sind weniger selbst verschuldete Diktaturen, als stasimäßige Zwischenhändler, die ihre eigenen Völker, ganz im Sinne der usurpierten Kapitalismussichtweise, an starke Devisen, Amerikaner und Coca-Cola verkaufen. .

Ja, schon wieder Sozialkritik und noch gar kein Wort verloren von den tollen Tieren der Galapagos-Inseln. Tja, aber das ist es, was meine Reisegedanken füllt, was meine Wegzehrung ist und was mein Herz bewegt. Ich weiß nicht, ob ich meine eigene Obsession ins Außen verlagere und dort kritisiere, aber die Gier nach Gold und Silber hat es nicht nur in der frühen Neuzeit gegeben.

Wen wundert es da also, dass, als ich mit zehn Stunden Verspätung und weich wackeligen Beinen ziemlich fertig in Quito ankam, mein Gepäck verschwunden war, und ich weinend mein stoffliches Gold davon fliegen sah.

Von den Menschen, ihren Augen, den Tieren und den Pflanzen, beim nächsten Mal.

Hasta la libertad