Nach Beni Hassan
An der Straße nach Beni Hassan
Auf dem Weg nach Mittelägypten bietet sich eine Rast in Minia an, zweihundertfünfunddreißig
  Kilometer hinter Kairo. In den Hotels am Ort, von denen sich einige ziemlich
  baufällig, andere (wie das Etap) aber recht modern ausnehmen, läßt es sich gut
  aushalten. Vor allem kann man hier auch ermessen, was die Urbanisierung in Ägypten
  wirklich bedeutet: Größe und Einwohnerzahl sowie die neue Universität weisen
  Minia als Stadt aus, aber die Lebensweise entspricht noch immer der eines aufgeblähten
  Provinznestes.
Etwas weiter südlich, in Abu Korkas, überqueren wir den Nil per Boot. Brücken
  sind eher selten, denn der Fluß ist sehr breit, was ihre Konstruktion schwierig
  und kostspielig macht. Die Investition lohnt in diesem Fall kaum, weil die meisten
  Ballungsgebiete in Mittelägypten (Beni Suef im Süden von Minia und Mellawi,
  Manfalut, Assiut und Sohag noch weiter südlich) am Westufer konzentriert sind.
  Gegenüber von Abu Korkas erhebt sich eine steile Felswand über der langgezogenen
  Nilschleife: der Aufstieg zu Fuß oder auf Eselsrücken folgt genau demselben
  Weg, den die Trauerprozessionen zu den ins Kalkgestein gegrabenen Hypogäen der
  Nomarchen (Statthalter der Region) einst einschlugen. Beni Hassan ist eine der
  schönsten Provinznekropolen, typisch für die Kunst des Mittleren Reiches. Zu
  den schlichten Gräbern führt oftmals ein Säulenportikus. Sie bieten eine herrliche
  Zusammenschau profaner und religiöser Fresken, die ihre ursprüngliche Farbenpracht
  nach entsprechenden Reinigungsarbeiten wiedererlangt haben. Tanz- und Sportszenen
  wechseln ab mit Darstellungen der Totenreise in die heilige Stadt Abydos. Im
  Grab Khnumhoteps III., einem hohen lokalen Würdenträger, wird der Betrachter
  von einer Karawane asiatischer Kaufleute in schillernden Kleidern empfangen.
  Ihre Gaben sind ein Beweis für die gutnachbarschaftlichen Beziehungen zwischen
  den Ägyptern und den Nomaden aus Nahost.
Tell al-Amarna, die vergängliche Hauptstadt
Weiter südlich, Mellawi und sein bescheidenes Regionalmuseum hinter sich lassend,
  besteigt man noch einmal die Fähre. Ziel ist der Talzirkus Amarna, nüchtern
  und grandios zugleich, eingefangen zwischen Gebirge und Nil; im übrigen nur
  trostloses Flachland, das kaum noch Spuren der antiken Stadt aufweist. Immerhin
  lenkte Echnaton seine Schritte hierher, als er Theben den Rücken kehrte, um
  eine neue Hauptstadt zu gründen. Das kurzlebige Gebilde überdauerte ihn nicht.
  In dieser nunmehr leergefegten Szenerie feiert die Kraft der Einbildung fröhliche
  Urständ. Es genügt, sich die vielfältigen Eindrücke ins Gedächtnis zu rufen,
  die andere Tempelmauern, Gräber und Stelen aus jener Epoche hinterlassen haben.
  Und schon entsteht im Geiste ein Palastfenster, das den König mit seinem geheimnisvollen
  Gesicht umrahmt, und dahinter Nefertiti und die sechs Töchter. In den Häusern
  ringsum errät man das fieberhafte Treiben der Handwerker und Künstler, der Bildhauer,
  Steinmetze und Maler: sie schaffen eilig jene Gipsmasken und Porträts, deren
  unerklärliche Schönheit uns noch heute berührt. In der Nähe des Palastes logieren
  die Höflinge und Getreuen des Königs in ihren Luxusbehausungen, umgeben von
  aufwendigen Gärten um einen Teich. Aus und vorbei: der Sand hat die Herrschaft
  zurückerobert.
Abseits im Gebirge öffnen sich die Felsengräber, mit Händen greifbar diesmal,
  aber schwer zu erreichen, geschmückt mit den eben geschilderten Szenen aus dem
  könglichen Leben. Hier wurden die Angehörigen des Königs und die Würdenträger
  bestattet. Akhenaton ließ sein Grab in der Tiefe dieses abgelegenen Wadi herrichten.
  Mehr als alle stolzen Denkmäler, an denen die Zeit scheinbar spurlos vorüberging,
  reizt dieser verwüstete Flecken, der einst Echnatons Stadt war, zum Träumen:
  in der Stille der Wüste hallen die lyrischen Silben der Hymne an Aton wider
   Aton, die Sonnenscheibe, Schöpferin des Universums.
Taubenschläge und Webkunst
Zurück zum linken Ufer. Große kegelförmige Taubenschläge setzen die Akzente
  in jenem Dorfreigen, der sich bis Assiut hinauf fortsetzt. Der ganze Stolz dieser
  größten Stadt in Oberägypten waren einst ihre herrlichen Bäume am Nilufer sowie
  die reichen Patrizierhäuser im Eukalyptusschatten. Seit den achtziger Jahren
  zeichnet sich Assiut durch eine starke fundamentalistische Bewegung vor allem
  unter den Studenten aus, was gelegentlich zu gewalttätigen Auseinandersetzungen
  führt. Die starke koptische Minderheit in dieser Region sorgt obendrein für
  periodischen Aufruhr. Nach Sadats Tod unterdrückte die Armee hier mit einiger
  Mühe eine Revolte, die einen Moment lang die Stabilität von Land und Regierung
  zu gefährden drohte.
In Akhmim am rechten Ufer, gegenüber von Sohag, erlernen die Kinder in den
  christlichen Schulen alte Webtechniken. Außerdem sticken sie bunte Alltagsszenen
  auf grellfarbige Stoffe, wie es ihnen gerade einfällt. Dabei kommen immer wieder
  einmal Themen zum Vorschein, die unmittelbar aus der alten ägyptischen Tradition
  stammen.
Wallfahrt nach Abydos
Vom Dorf Baliana (an der Bahnlinie) führt eine Straße ins antike und verehrungswürdige
  Abydos, jenseits der Anbauflächen im öden Tiefland.
Abydos verdankt seine Bedeutung vor allem der »Passion des Osiris. Hier
  wurde nämlich das Haupt des zerstückelten Gottes geborgen und in einem Reliquienschrein
  aufbewahrt. Es entstand eine Wallfahrtsstätte mit Hunderten von Gedenkstelen,
  zu deren Wiederentdeckung man sich im 19. Jh. beglückwünschte. Hier wurden Mysterienspiele
  aufgeführt, die alljährlich Osiris´ Ermordung und Wiedergeburt beschworen.
Von alters her ließen sich die Könige in Abydos bestatten. Andere begnügten
  sich mit der Errichtung leerer Gräber aus ungebrannten Ziegeln. Diese Kenotaphe
  sind inzwischen in einem miserablen Zustand. Zu den besser erhaltenen Baudenkmälern
  gehören der Tempel von Seti I. und das dazugehörige Kenotaph, das sogenannte
  Osireion. Die prächtig kolorierten Wandreliefs stellen möglicherweise den Höhepunkt
  altägyptischer Kunst dar: weder der abgeschmackte Manierismus unter Amenophis
  III. noch die sprühende Überschwenglichkeit unter Ramses II. erreichte jene
  Formvollendung, die aus den zahlreichen Darstellungen des Königs mit den Göttern
  spricht. Da sieht man allen voran Osiris, aber auch Isis, Re-Horakthy und Ptah.
  Die Örtlichkeiten waren stets voller Spiritualität, bildlich wie praktisch.
  So begegnete man in einer der Tempelhallen lange Zeit einer alten englischen
  Dame, die sich hier niedergelassen hatte, um sich dem Seti-Kult zu widmen.
Hathor die Vergoldete
Die Provinzhauptstadt Kena liegt nicht unmittelbar am Nil; das freundliche
  Hinterland besteht aus Zuckerrohrplantagen und Palmengruppen. Durch die stillen,
  düsteren Hallen des Dendera-Tempels huschen Fledermäuse. Die Atmosphäre ist
  kaum anders als zur römischen Kaiserzeit, als man hier Hathor huldigte, der
  Göttin des Tanzes, des Rausches und der Liebe. Ihr vierfaches Antlitz blickt
  von jedem Kapitell des Hypostylons herab: menschliche Gesichtszüge mit Kuhohren,
  eingerahmt von großen Locken. Puristen und Amateure des reinen, ägyptischen
  »Klassizismus haben die Bau- und Ornamentkunst jener Epoche zu Unrecht verschrien.
  Wohl sind die Göttinnen und Königinnen nicht mehr so schlank wie einst, doch
  gewinnen sie dadurch eine neue, rührende Sinnlichkeit  letzter Abglanz einer
  erlöschenden Kunst. Wie in einem Film läßt sich von Saal zu Saal der Ablauf
  der täglichen Gottesdienste und der Festtage verfolgen  drei Jahrtausende lang
  wiederkehrende Rituale: Priesterkolonnen auf dem Weg zu den Tempelterrassen,
  wo sie der Göttin Weihrauch und Geschenke im Überfluß darboten, auf dass es ihr
  an nichts fehlen möge.
Draußen warten die Dorfkinder mit kleinen Korngarben, dem Wohlstandssymbol
  für jede Haustür. Fast ohne vorausgehende Dämmerung bricht rasch die Nacht über
  dem heiligen See herein; man hat ihn sorgfältig mit Steinen eingefaßt, doch
  ist er völlig zugewachsen. Nun wird es ruhig. Die Fellachen kehren von ihren
  Feldern heim; ihre Esel verschwinden fast unter den Klee- und Bohnenladungen,
  während die Kamele mit riesigen Zuckerrohrbündeln einherwanken. Noch lange bleibt
  der funkelnde Staub in der Luft über den Wegen oberhalb der Kanäle stehen. Es
  riecht nach allem möglichen. War´s nicht schon immer so? Sind nicht die Bilder,
  Farben und Gerüche die gleichen geblieben, seit die vergoldete Hathor hierzulande
  gebot? Und wieder das ergreifende Gefühl von Nostalgie nach all den verlorenen
  Dingen, die man nur einen Moment lang zu kennen und zu fassen glaubt. Das Herz
  erzittert: es war einmal ...
		

