Krach
Der Lärm der Stadt
Mehr als jede politische, wirtschaftliche oder soziologische Analyse läßt ein
  zufälliger Spaziergang durch die Straßen die Realität Kairos ermessen. Sicherlich
  sind die Museen, die Zitadelle, die Totenstadt und ihre Gräber Fixpunkte jedes
  Rundgangs, aber man sollte sich nicht scheuen, einfach mal drauflos zu marschieren,
  selbst auf die Gefahr hin, sich in dieser lauten Stadt zu verlaufen. Ganz bestimmt
  wird sich jemand finden, der Ihnen zumindest ungefähr den Weg weist.
Vor den Haustüren dösen die Bawabs, die in Kairo die Hausmeisterpflichten übernehmen,
  auf ihren Bänken vor sich hin oder sind in nicht enden wollende Meditationen
  vertieft, obwohl um sie herum ein Heidenlärm herrscht: ein unaufhör-liches Hupkonzert
  und die Rufe der fliegenden Händler, die mit sonorer Stimme ihr Frühobst oder
  ihren Brennspiritus für tragbare Teekocher anpreisen; dröhnende Musik aus der
  kleinsten Verkaufsbude, während sich die Taxifahrer an der Stimme Umm Kulthums,
  der beliebten Diva, Farid al-Atrachs oder Fairuz´ berauschen. In der Morgen-
  und Abenddämmerung zwitschernde Vögel, die es sich trotz der Luftverschmutzung
  nicht nehmen lassen, die wenigen Bäume Kairos zu bevölkern; schlußendlich noch
  die per Lautsprecher verbreiteten Rufe der Muezzins. Mitten in der Stadt beobachtet
  man, vor allem freitags zur Zeit des Großen Gebetes, die Männer ihre Teppiche
  ausrollen oder ein Stück Karton oder Zeitung aufs Pflaster legen, um Andacht
  zu halten, sofern sie nicht die Moschee aufsuchen können.
Gerüche
Eine Stadt erkennt man auch mit geschlossenen Augen an ihren Gerüchen. Kairo
  riecht besonders stark, nach subtilen Aromen gleichermaßen wie nach muffigen,
  drückenden Gerüchen: wenn der Wind von Süden weht, breitet sich der fade, beißende
  Beigeschmack der Gerbereien über die ganze Stadt aus und mischt sich unter den
  Benzindunst, während Kinder die Verkehrsstaus dazu nutzen, gegen ein paar Piaster
  Rosensträuße oder Jasminbunde zu verkaufen, deren zu Kopf steigender Duft den
  Erwerber noch lange verfolgt.
In den Gassen von Muski kündet der Geruch nach leicht ranzigem Öl die Stände
  der Kebab- und Felafel-Verkäufer an, deren Gerichte man ungeniert auf wachstuchbedeckten
  Tischen verzehrt. Rund um die für Nicht-Moslems verschlossene Sayedna-Hussain-Moschee
  trifft man manchmal auf verstörte, zerlumpte, aber ehrfurchtgebietende Alte,
  die ihr Weihrauchfaß schwenken und Gott preisen. Die Passanten erfüllen mit
  ihrem Obulus die Verpflichtung zur Barmherzigkeit gegenüber diesen heiligen
  Männern.
Im selben Viertel sollten wir innehalten und uns die Zeit nehmen, in einem
  der Winkel des berühmten Cafés Fischawi einen Pfefferminztee zu schlürfen. Indem
  man den Bezirk teilweise abriß und neu wieder aufbaute, hat man ihm ein wenig
  von seinem Zauber genommen. Dennoch tut es immer noch gut, vis-à-vis der großen
  blinden Spiegel Platz zu nehmen und sich vom Gemurmel einhüllen zu lassen. Ein
  paar Schritte weiter verbreitet die Straße der Gewürze ihre Wohlgerüche: nach
  Kümmel, Zimt, Kardamom, Pfeffer und Curry, die nach Gewicht direkt aus großen
  Jutesäcken verkauft werden.
Alles in allem eine überraschende Mischung aus Ausdünstungen und Wohlgerüchen,
  welche die Hitze noch verstärkt: Staub, Benzin, Fritierfett, berauschende Parfums,
  Weihrauch, Obst, Blumen, Gewürze.
Tag und Nacht
Der volkstümliche Bazar von Khan al-Khalil hat unter dem Einfluß des Massentourismus
  viel von seinem Lokalkolorit eingebüßt. Man sollte dem Ramsch made in Honkong
  und anderswo mißtrauen und darauf verzichten, hier ein Schnäppchen tätigen zu
  wollen.
Ab dem von kleinen Händlern bevölkerten Ataba-Platz folgt man der Muski-Straße,
  in der man alles finden und erwerben kann, und biegt in die Muiz al-Din Allah-Straße
  ein, die Richtung Norden entlang der Al-Hakim-Moschee bis zum Bab al-Futuh-Tor
  und Richtung Süden bis zum Bab Suwela-Tor führt. Hier hat sich seit dem 19.
  Jh. kaum etwas verändert. Die enge Gasse verschwindet stellenweise unter Behängen.
  In winzigen Läden kauern Männer im Schneidersitz auf Bänken und nähen die mit
  geometrischen, lebendig kolorierten Moti-ven versehenen Stoffe der großen Gebetszelte,
  die vor den Moscheen aufgeschlagen sind.
An den Abenden des Ramadan flaniert die ganze Familie nach dem Ende des Fastens
  hier bis spät in der Nacht auf und ab, die Frauen beladen mit Eßbarem, lauscht
  der überall erklingenden Musik und kauft rosafarbene oder grüne Zuckerpuppen,
  die man traditionsgemäß seinen Kindern an diesen Festtagen schenkt.
Wenn nicht gerade Ramadan ist, warum dann nicht den Abend in einem Kairoer
  Kino verbringen, wo ein ägyptisches Melodram oder ein amerikanischer Spielfilm
  gezeigt wird? Im Saal hauptsächlich Männer, Melonenkerne kauend, Cola trinkend
  und mit Begeisterung Anteil an den Abenteuern der Helden nehmend. Man ruft den
  »Guten Ratschläge zu und verwarnt die »Bösen, bricht in schallendes Gelächter
  aus oder ist völlig verzweifelt. Ein Kuß auf der Leinwand, und die aufgeputschte
  Menge gerät außer Rand und Band.
Abends leeren sich alsbald die Straßen, aber vielleicht muß man den Annehmlichkeiten
  von Kairo by night ja Opfer bringen. Auch wenn es die sogenannten Almées, die
  leichten Sängerinnen und Tänzerinnen, schon seit langem nicht mehr gibt, preisen
  doch sämtliche Nachtclubs und besseren Hotels eine Bauchtanzvorführung an. Wirkliche
  Liebhaber und gutunterrichtete Kenner werden Ihnen jene Tänzerin empfehlen,
  die gerade in Mode ist, diejenige, die mit wogenden Hüften den ganzen Saal zum
  Beben bringt, während ihr reiche Emirs Geldscheine zwischen die Brüste schieben.
  Diese Attraktion dürfen Sie nicht versäumen: den ägyptischen Tänzerinnen eilt
  der beste Ruf voraus, und sie sind überall in der arabischen Welt gefragt. Eine
  Abendgesellschaft, eine Hochzeit oder ein Film wären ohne Tanzeinlage und traditioneller
  Instrumentalmusik undenkbar: Tabla als Schlagzeug, Ud, eine Art Laute, Rababa,
  ein Saiteninstrument und das Tamburin Darabuka, mit dessen Hilfe der Rhythmus
  bestimmt wird. Aber die schönen arabischen Melodien sind häufig von westlichen
  Einflüssen durchsetzt.
So ist das nun mal in Kairo, wo man sich verläuft, wenn man nur sechs Monate
  nicht mehr da war: so rasch verändert sich alles. Eine Stadt der verschiedenen
  Lebenswelten, wo der verunsicherte Fellache vom Land auf den Geschäftsmann trifft,
  der in der ganzen Welt zu Hause ist; wo der fundamentalistisch gesonnene Student
  der Al-Azhar-Universität denjenigen der Amerikanischen Universität ignoriert,
  die in seinen Augen zu liberal ist; wo der in weiten Kreisen bekannte fundamentalistische
  Scheich Kishk bei den Freitagspredigten die Massen anzieht, während sich andere
  in den Nachtclubs der Pyramidenstraße amüsieren; wo provozierender Reichtum
  Seite an Seite mit blanker Not ein explosives Gemisch bildet.
		

