Verborgene Stadt
Die verborgene Stadt
Im Südwesten, im Herzen des alten Rhakotis-Viertels, erhob sich das Serapeum,
  der hybriden Gottheit Serapis geweiht, einer griechischen Form des ägyptischen
  Gottes Osiris-Apis, der Pluton sein bärtiges Gesicht geliehen hatte. Dieses
  Gebäude stellte einen der Hauptanziehungspunkte Alexandrias dar, so populär
  war die Verehrung jenes Gottes. Der Kult der Göttin Isis war eng damit verbunden.
  Auf einem öden Gelände, das eine kümmerliche Vegetation nicht freundlicher zu
  gestalten vermag, ist  inmitten einiger hier seit der Antike stehender pharaonischer
  Standbilder  heute nurmehr die Pompejus-Säule zu sehen und die Eingänge der
  unterirdischen Gewölbe, die als Katakomben dienten.
Im Osten wurden die großartigsten Bauwerke errichtet, vor allem der Sema, der
  zur Nekropole der Ptolemäer wurde, nachdem die Leiche Alexanders aus Babylon
  überführt und hier mit Glanz und Gloria beigesetzt worden war. Sowohl Fach-
  als auch Amateurarchäologen suchen verzweifelt nach seinem Grab, das man zeitweise
  am Platz der Nebi-Daniel-Moschee vermutete. Obwohl regelmäßig Gerüchte über
  dessen Entdeckung kursieren, hat der Boden Alexandrias den Körper seines Gründers
  bisher nicht wieder hergegeben.
Die bedeutende Neuerung bei der Anlage Alexandrias waren Museum und Bibliothek,
  die auf Initiative des Demetrios von Phaleron unter den ersten beiden Ptolemäern
  gegründet und ausgebaut wurden. Eine komplexe und umfangreiche Einrichtung,
  die sowohl als Universität als auch als Akademie diente und Gelehrte, Grammatiker,
  Philologen, Physiker, Astronomen, Geographen, Mediziner, aber auch Philosophen
  und Dichter beherbergte, die sich ihrer Forschungstätigkeit widmeten und einige
  Vorlesungen gaben. Die Bibliothek zählte bis zu siebenhunderttausend Bände und
  vereinte unter ihrem Dach sämtliche Texte der griechischen Welt: bis auf wenige
  Ausnahmen existierten in diesem Labyrinth des Wissens keine ägyptischen Werke.
  Die Stunde der Kodifizierung hatte geschlagen: man stellte die Texte zusammen,
  ordnete sie ein, verglich und deutete sie. Anläßlich der Belagerung Alexandrias
  durch Cäsar im Jahre 48 v.Chr. teilweise ausgebrannt, unter Antonius wiedererrichtet
  und bereichert, wurde die Bibliothek bei den gewalttätigen religiösen Auseinandersetzungen
  des vierten Jahrhunderts geplündert. Lange Zeit also bevor Amr, dem man den
  Brand in die Schuhe schob, die Stadt eroberte. Der Verlust der Bibliothek ist
  nicht wieder gutzumachen, doch dank arabischer Übersetzungen konnte ein Teil
  der antiken Texte seit der Renaissance dem Abendland übermittelt werden.
In Meeresnähe befand sich das Viertel des Brucheion mit seinen königlichen
  Palästen. Von all dem ist fast nichts erhalten, außer in der Stadtmitte das
  römische Theater Kom al-Dick und die Thermen, die seit Jahren schon von einem
  polnischen Archäologenteam ausgegraben werden.
Weiter östlich erstreckte sich das beachtliche jüdische Stadtviertel: Alexandria
  beherbergte damals, wie später im 19. und frühen 20. Jh., eine vielköpfige Diasporagemeinde.
  Bisweilen gewalttätigen Schüben von Antisemitismus ausgesetzt, dann wiederum
  von den Ptolemäern, welche die verschiedenen ethnischen und religiösen Gemeinschaften
  gegeneinander ausspielten, in Schutz genommen, brachten die Juden dieser Dynastie
  häufig ihre loyale und tatkräftige Unterstützung entgegen, einer Dynastie, die
  im Gegenzug ihren kulturellen Einfluß begünstigte. Unter dem Ptolemäer Philadelphius
  übersetzten zweiundsiebzig jüdische Gelehrte die Thora aus dem Hebräischen ins
  Griechische (diese Septuaginta blieb bis in die jüngste Zeit eine allgemeingültige
  Vorlage); und Philon mühte sich, die Ideen Platons mit der jüdischen Glaubenslehre
  zu versöhnen.
Bei der späteren Ausbreitung des Christentums in Ägypten spielte Alexandria
  eine Schlüsselrolle. Die Tradition sieht im Hl. Markus den Bekehrer der Stadt.
  Gnostik, Neoplatonismus und Mystizismus fielen in dieser Stadt, die stets intensiven
  Veränderungen des zeitgenössischen Denkens unterworfen war, auf fruchtbaren
  Boden.
Nach dem Goldenen Zeitalter der ptolemäischen Herrschaft und dem Prunk, den
  die ersten römischen Jahre mit sich gebracht hatten, konnte Alexandria den Verwüstungen
  Diokletians, den verschiedenen Wellen von Religionskriegen, die Plünderung und
  Zerstörung entfachten, und schließlich der arabischen Besetzung nicht standhalten.
Nicht verwunderlich daher, dass von der antiken Stadt nicht mehr viel zu sehen
  ist. Schutt sammelte sich nach und nach an und verdeckte das, was die Zeiten
  überdauert hatte. Schlimmer noch: als Alexandria im 19. Jh. erneut einen Aufschwung
  erlebte, wurde es genau auf den antiken Stätten wieder aufgebaut und begrub
  für immer unter sich, was davon noch vorhanden war. Dennoch stößt man bei Grabungsarbeiten
  im Alexandrinischen Untergrund noch häufig auf Gegenstände oder Mauerreste.
  Abgesehen von den wenigen bereits beschriebenen Orten erweckt das in den achtziger
  Jahren ansprechend renovierte griechisch-römische Museum diesen Zeitabschnitt
  am anschaulichsten wieder zum Leben.
Dennoch reicht dies nicht aus. Wer im heutigen Alexandria wirklich die unterirdische
  Zwillingsschwester wachrufen möchte, dem hilft nur die Zuflucht zu einer Archäologie
  des Geistes. Wie auf einem Palimpsest erscheint nach und nach, einer Überblendung
  gleich, das leicht verwischte Bild der anderen Stadt.
In Ägypten sind die Behausungen der Toten besser in Schuß als die der Lebenden.
  Namentlich in Alexandria, wo man von der Gründung an bis zur christlichen Epoche
  seine Toten mit Vorliebe in Katakomben beisetzte, die vom Zahn der Zeit und
  den Attacken der Menschen häufig verschont blieben. Darum kann man heute noch
  auf der ehemaligen Insel Pharos, unweit des Ras al-Tin-Palastes, die Nekropole
  von Anfuschi bewundern, ebenso die Katakomben von Kom al-Schoukafa zwischen
  Pompejus-Säule und Mahmudieh-Kanal, und die von Schatby im Osten. Der ägyptischen
  Volksmythologie entlehnt, aber einem griechischen Einflüssen unterworfenen Stil
  entsprechend ausgelegt, bedecken Darstellungen religiöser Themen die Wände.
  Mit einem Anflug von Naivität, in einer eher ungeschickten Mischung, ein wenig
  kitschig, aber gleichwohl nicht ohne Reiz: so zeichnen sie ein genaues Bild
  jener hybriden Kunst, die in Alexandria geboren wurde.
		

