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Sao Paulo

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Erster Eindruck: Wenig als erwartet

Die gigantische Industriestadt Brasiliens

Beste Küche aber kein Exotik

Sao Paulo (Vorwahl: 011)

Die Gegenspielerin Rios pflegt Reisende beim ersten Anblick zu schockieren! Sao Paulo erstreckt sich nämlich über eine Fläche von mindestens 3.200 Quadratkilometern: achtzig Kilometer lang und vierzig breit! Dieser für mitteleuropäische Verhältnisse unvorstellbare Ballungsraum hat denn auch Wolkenkratzer so weit das Auge reicht, einen Höllenverkehr und in alle Himmelsrichtungen irrende Menschenmengen zu bieten – die Einwohnerzahl der Megastadt beläuft sich inzwischen auf über fünfzehn Millionen! Sao Paulo lebt nach einem gleichsam selbstmörderischen Rhythmus. Kein Gramm Exotik! Es wirkt eher wie eine Mischung aus New York und Tokio; eine ständige Baustelle, wo zusätzlich ein paar Palmen stehen. Sao Paulo – die brasilianische »Wirtschaftslokomotive« gilt als Mekka eines unverblümten Kapitalismus´ und Tummelplatz internationaler Multis – scheint seine Entwicklung nicht kontrollieren zu können. Kurz, kein Mensch hält sich freiwillig länger als achtundvierzig Stunden in Sao Paulo auf. Dabei soll das kulturelle Leben hier vielfältiger sein als in Rio, und einige vergeßliche Spekulanten und Bauplaner haben hier und da doch tatsächlich ein belebtes Straßenstück oder eine Handvoll von Italienern bewohnter Behausungen im Stadtkern (Bixiga) übersehen ...

Die Armut ist in Sao Paulo, wie in allen explodierenden Megalopolen, noch gegenwärtiger und weniger gut zu ertragen als in Rio. Wie der Rassismus auch, ist sie überall spürbar. Trotzdem können wir uns die Anmerkung nicht verkneifen, dass man in Sao Paulo eine der besten Küchen Brasiliens vorfindet und dass die Preise überraschend maßvoll ausfallen.

Aus der Geschichte

Sao Paulo liegt 750 m über dem Meeresspiegel, auf einer Hochebene mit fruchtbarem Boden und ausreichenden Niederschlägen. Das Klima ist gemäßigter und frischer als in Rio. Im Jahre 1545 glaubten die Jesuiten hier den geeigneten Ort gefunden zu haben, um ihren Auftrag im Sinne des Heiligen Paulus zu erfüllen. Die Missionsstation gab dann der Stadt auch ihren Namen. Die Entdeckung von Goldvorkommen im 17. Jahrhundert in Minas Gerais führte zu einer überstürzten Entwicklung Sao Paulos: es wurde bevorzugter Ausgangspunkt für Goldwäscher, Bandeirantes und andere Abenteurer. Trotz alledem profitierte Sao Paulo nicht unmittelbar vom warmen Regen des edlen Metalls, da dieses in Rio angehäuft und ausgeführt wurde. Eigentlich führte erst die Kaffeeproduktion zur wirklichen Ausdehnung der Stadt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfährt Sao Paulo einen ähnlichen Boom wie Manaus mit seinem Kautschuk. Unglaubliche Reichtümer wurden angehäuft. Dann folgte die Weltwirtschaftskrise 1929, die Brasilien besonders hart traf: Millionen Tonnen Kaffee wurden vernichtet oder als Heizmaterial für Lokomotiven verwendet. Dem Kaffeeboom folgte eine Blütezeit der Industrialisierung, was ein Ausufern der Stadtgrenzen zur Folge hatte. Hier nur einige Zahlen, um sich ein Bild von der Größe Sao Paulos zu machen: 1907 zählte man 334 Fabriken, im Jahre 1972 waren es 23.000, vier Jahre später schon 36.000. Sao Paulo ist auch eine riesige Einwandererstadt. Ende des letzten Jahrhunderts siedelten sich allein 500.000 Italiener in der Region an. In den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts zählte man bereits über eine Million Italiener, zu denen sich hunderttausende Portugiesen, Spanier, Deutsche und ... Japaner gesellten, in deren Händen heute eine starke Wirtschaftskraft ruht. Wenn man auch noch die Einwanderer aus dem Landesinneren (dem Nordeste) berücksichtigt, so ergibt sich aus dem Zusammenspiel dieser ethnischen und sozialen Ursprünge ein ganz besonderer brasilianischer Typus: der »Paulista« ...

Der »Paulista«

Warum wir den Paulista überhaupt erwähnen? Weil er, neben dem Carioca und dem Bahianesen, einen der drei markantesten Typen Brasiliens darstellt. Die öffentliche Meinung pflegt ein ganz bestimmtes Bild von ihm: er lebt als aktives, dynamisches und modernes Individuum im Laufschritt. Heißt es nicht, er müsse ständig laufen, um »der Stadt in ihrem rapidem Wachstum folgen zu können«? Häufig stellt man ihm den trägen, vergnügungssüchtigen Bewohner Rios gegenüber. Übrigens lautet eine Volksweisheit aus Sao Paulo: »Sao Paulo arbeitet, Minas Gerais macht Politik, Rio Grande do Sul regiert und Rio erholt sich ...« Wenn man polemisch sein wollte, könnte man ergänzen: ... und der Nordeste stirbt vor Hunger. Wie auch die überwältigende Mehrheit der Reichen überhaupt, ist der Paulista im allgemeinen von weißer Hautfarbe und pflegt einen rein europäischen Lebensstil. Überdies reist er viel herum. Überall in Brasilien trifft man ihn an, leichte Verachtung für die »Bauern« der übrigen Städte zeigend, voller Stolz über seine Aura als »Mensch des 21. Jahrhunderts«. Die Arbeiter von Ford, Volkswagen, aus den deutschen Chemiefabriken, den japanischen Unternehmen usw. haben von sich reden gemacht, als sie unter der Militärdiktatur unerschrocken für die Anerkennung ihrer freien Gewerkschaft, für mehr Gehalt und bessere Arbeitsbedingungen fochten. Der bekannteste und beliebteste Gewerkschaftsführer, Lula, steht für eine neue Generation von Brasilianern, die sich als Nichtteilnehmer oder sogar Opfer des Wirtschaftssystems verweigern. Um ein Haar wäre er bereits 1989 brasilianischer Präsident geworden.

Zur Sprache kommen müssen beim Stichwort Paulista auch all die anderen: hunderttausende, von Armut und Hunger getriebenen, entwurzelte Bauern, ihrer Scholle beraubt, die sich in den Elendsvierteln am Rande dieses vermeintlichen Eldorados ansiedeln. Diese Menschen werden niemals eine anständige Arbeit finden – und wenn doch, dann nur unter schlimmsten Bedingungen – sondern ihre Kinder entweder sehr jung sterben oder Drogen und Kriminalität verfallen sehen. Deshalb bedarf jedes Heile-Welt-Bild der Korrektur, und es bleibt zu wünschen, dass unsere Leser mit allen Typen der Paulistas in Berührung kommen.

Umwelt und Lebensqualität

Wer einmal im Stau auf der von Abgas- und Rußschwaden eingenebelten Avenida Paulista gesteckt hat, immerhin die nobelste Einkaufsmeile Sao Paulos, wird solchen Begriffen eine ganz neue Qualität abgewinnen können und gewinnt zugleich eine Vorstellung vom dringendsten Umweltproblem der Stadt: dem motorisierten Individualverkehr, dessen Abkürzung (MIV) den Nagel auf den Kopf trifft. Dabei heißt es doch, Stillstand sei für den Paulista der Tod. Nichts hindert ihn indes daran, sich mit seinem Auto täglich brav in die Blechlawine einzureihen und den Stillstand zu proben. Autofahren gilt in Sao Paulo halt noch als Vorrecht jener, »die es geschafft haben«, ein Zeichen dafür, dass es mit dem 21. Jahrhundert nicht so weit her sein kann.

Ersatz für mangelhafte Lebensqualität – andere Metropolen haben wenigsten Parks oder eine urbane Größe zu bieten – leistet in Sao Paulo einzig und allein der Konsum, von dem große Teile der Bevölkerung freilich ausgeschlossen sind. Denen bleiben nur die beengten Wohnverhältnisse, die stinkenden, als Abwasserkanäle mißbrauchten Flüsse, die kohlenmonoxidgeschwängerte Atemluft, die Betonwüste, das Elend und die Kriminalität. Aber wie das häufig so ist: die Paulistas mögen sich bitter beklagen; eintauschen möchten sie ihre Stadt mit keiner anderen in der Welt.