Machen wir ein Buch?

Reise, Sachbuch, Belletristik ...?
Alle interessanten Themen;
alles was bewegt.

Hier geht´s weiter!

Leute

Body: 

Lebendige Kultur und Traditionen

Im Nordosten wird man das Herz des wahren Brasiliens auf zahlreichen Festen und auf religiösen sowie kulturellen Veranstaltungen schlagen hören. Die Rückkehr zu den Wurzeln ihrer Kultur erlaubt es den mehrheitlich farbigen Bewohnern des Nordeste, ihre Eigenart zu wahren oder neu zu entdecken. Dabei helfen ihnen die afro-brasilianischen Riten des Candomblé und der Umbanda, der ursprünglich gebliebene Karneval, die bei festlichen Anlässen in Szene gesetzten Legenden und Erinnerungen des einfachen Volkes. Sao Luís, Recife und Salvador da Bahia sind drei unvergeßliche, wenn nicht gar obligatorische Ziele bei einer Brasilienrundreise: um sich einen Begriff von den liebenswürdigen Menschen im Nordeste, von den realen Gegebenheiten der Region machen zu können.

»Quilombos«

Schlecht ernährt und erschöpft, mußten die schwarzen Sklaven zu allem Übel auch noch körperliche Züchtigungen wie die Novena ertragen. Diese Strafe bestand aus Peitschenhieben, die an neun aufeinanderfolgenden Nächten zu erdulden waren. Unzählige Sklaven starben schon vor Beendigung der Folter. Kein Wunder, dass Ausbrüche an der Tagesordnung waren: die Sklaven flohen ins Landesinnere, wo sie die Quilombos gründeten, unabhängige und wehrhafte Dorfgemeinschaften, welche Flucht und Ausbrüche anderer Sklaven durchführen halfen. Im Bundesstaat Alagoas war die größte Ansammlung von Quilombos zu verzeichnen. Eine der Gemeinschaften umfaßte fast zehntausend Hütten, und der Widerstand der Bewohner war ausdauernd und heldenhaft. Die Heldentaten der freien Quilombo-Gemeinschaften bilden seither die thematische Grundlage für die brasilianische Groschenliteratur (Literatura de cordel), für volkstümliche Lieder und Theaterstücke.

Der »Coronel«

Als Erbe des Senhor do engenho regierte der Coronel etwa von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis 1930 über das trockene nordostbrasilianische Binnenland. Der Negersklave wurde durch den Caboclo (Mischling aus Weißen und Indianern) ersetzt, da er an die Lebensbedingungen des Sertaos besser gewöhnt war. Ein Coronel, an der Spitze eines in jeder Hinsicht patriarchalischen und ausbeuterischen Systems, ist ein Bandenführer, wenn es darum geht, einen schwächeren Nachbarn auszuplündern oder sich begehrter Territorien zu bemächtigen. Er fungierte aber auch als Richter und manchmal gar als geistiger und religiöser Anführer. Auf den Großfarmen wurde hauptsächlich Tierzucht betrieben. Der Kleinbauer mußte bei einer katastrophalen Trockenheit den Tod seiner Tiere hinnehmen. Verschuldung und Abhängigkeit vom Coronel steigerten sich bis zu dem Punkt, an dem er auf Lebenszeit zum Leibeigenen des Großgrundbesitzers wurde oder gezwungen war, mit seiner Familie zum Überleben in eine andere Gegend zu ziehen.

Der »Cangaceiro«

Im Gefolge des Elends und des Kampfes gegen den Hunger erscheint ein Straßenräuber im Sertao, der Cangaceiro, durch die Filme Glauber Rochas unsterblich gemacht. Es gab sogar unterschiedliche Typen von Cangaceiros. Neben das Bild des plündernden und grausamen Banditen gesellte sich jenes des großherzigen Weltverbesserers, der die Reichen ausraubte, um dann die Beute an die Armen weiterzugeben – eine Art Robin Hood in den Steppen des Sertao. Ein religiöser Kult und fieberhafter Glaube animierte die Cangaceiros zu ihren Taten, aus denen wiederum pittoreske Helden hervorgingen, deren Glanztaten in der Literatura de cordel (triviale Unterhaltungsliteratur) gerühmt wurden.

Der »Posseiro«

Dem von der Trockenheit ruinierten und von seinem Grund und Boden vertriebenen Flagelado, dem Kleinbauern aus dem Nordeste, bleibt heute nichts anderes mehr übrig, als in die Favelas der Großstädte zu ziehen oder weiter weg nach einem fruchtbareren Boden zu suchen. Er besiedelt, ohne in Besitz von gültigen Papieren zu sein, ein neues Stück Land und erhält nach einem Jahr und einem Tag das Bleiberecht dort. Es handelt sich jedoch nur um ein Besitzrecht symbolischer Art. Jener Kleinbauer, der den kargen Boden in fünf bis zwanzig Jahren urbar gemacht hat, der Posseiro also, wird zu ihrem Feind ... Man bietet ihm zunächst eine mickrige, oft lächerliche Abfindung an. Weigert er sich, diese anzunehmen, so steht ihm eine Reihe von Repressalien bevor. In komplizenhafter Zusammenarbeit mit Richtern, Anwälten und korrupten Cartórios (Notaren) schieben die Fazendeiros zunächst gefälschte Besitztitel vor. Wenn auch das nicht reicht, so werden Pistoleiros, eigens zu diesem Zweck gedungene Mörder, auf die widerspenstigen Kleinbauern angesetzt. Die verheerenden Folgen: Morde sowie in Brand gesetzte Höfe und Dörfer. Von den Fazendeiros geforderte und von der Polizei vorgenommene Verhaftungen sind an der Tagesordnung. Die verhafteten Posseiros sehen sich schließlich gezwungen, die Verträge zum Verkauf ihres Landes zu unterzeichnen; manchmal legt man ihnen sogar ein unbeschriebenes Blatt Papier zum Unterschreiben vor. Die Verbrecher vermögen ihre Grausamkeit indes noch zu steigern: sobald Arbeitskräfte gebraucht werden, machen sich die Pistoleiros auf die Suche nach Tagelöhnern: der enteignete Posseiro kommt dann u.U. auf sein eigenes Land zurück, um dort für einen Hungerlohn unter der Aufsicht bewaffneter Posten zu schuften. Noch während unseres letzten Aufenthaltes im Sertao wurden wir Zeugen, wie alle Männer eines Dorfes von Pistoleiros gezwungen wurden, Haus und Hof zurückzulassen und einen Lkw zu besteigen.