Nordperu

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Umherschweifen in Huanchaco

Timmy der Meereswanderer

Sprache des Meeres und der Sterne

Huanchaco, Nordperu, Fischer und Wellen, kleine Straßen ohne Autos, Schnaken, und Timotheus die Schildkröte, oder wie ich sie nennen durfte - Timmy the Tortuga!

Ein Frachtschiff von Vielkilo mit Riesenpanzer oben und unten, eine Landschildkröte, riesengroß und immer auf der Suche nach was zu fressen: Meine Blätter-Geschenke, Brötchen und Bananen mal eben so mit Kauleisten reingezogen und runtergewürgt, kein wirklicher Kauvorgang im Mund, Reptilien sind primitiv, viele Millionen älter als Säuger, gut und gerne 280 Millionen Jahre alt, zu Zeiten, als es noch Superkontinente gab, Anden und Alpen noch nicht im Entferntesten erdacht und Indien irgendwo am Südpol hing.

Meinen Finger kriegste aber nich, blinzel ich ihm zu, denn auch ohne Zähne kannste mit den Kauleisten ordentlich zupacken, und je älter das Wesen, um so gieriger auf alles Fressbare ist´s, um so geringer die Empathie. Immerhin spricht Timmy fließendes Englisch, während ich ihm Rücken und Bauch abklopfe und bewundernd über die Reptilien-Beine streichel, eine obskure Mischung aus Schlangenhaut, Chamäleon-Bauch und Oktopus-Greifern.

Typischer Hangover-Ort hier, beginnt mit Timmy, vielen Touristen, Surfer, Suchende, Verlorene, da hinten der Typ mit dem Einzelzimmer in Kabine 3, ein ehemaliger Drogendealer aus den bayrischen Alpen. Hat ein mittleres Vermögen damit gemacht und ist jetzt seit zwei Jahren unterwegs, on the Road sozusagen, Asien, Australien und nu Südamerika, seit drei Monaten hier an diesem Ort, täglich eine zu starke Dosis Rum, Bier und Marihuana, manchmal Koks, hängen geblieben, kleine Augen, zittriger Körper, Diplom-Biologe, nicht dumm, aber nur drauf. Ich kenn viele von solchen Typen: Aussteiger, Wegsteiger, Absteiger, Wo geht´s hin im Leben? fragt Timmy ohne eine Frage zu stellen.

Ich antworte trotzdem: Zu den Sternen, wennde mich fragst.

Timmy grinst und kommt meinen stierroten Socken verdächtig nahe. Die gibt´s nicht, wehr ich ab und organisier neue Pflanzennahrung, der bayrische Drogendealer kommt vorbei, sieht wie Timmy im Gehen kuhähnliche Fäkalien von sich gibt, lacht vom Dasein paralysiert und steckt seine fertig gerauchte Zigarette in den klebrigen Haufen.

Wo willste hin?, frag ich ihn.

Ich weiß es nicht, kann irgendwie nicht mehr nach Deutschland, weiß gar nicht, wo und was. So immer auf der Reise ist es aber nicht, mir fehlt ein Zuhause, der Boden unter den Füßen, die Routine, die Organisation, die Familie! Naja, ich versuch´s bald im Dschungel ...
In seinem Zimmer leuchten Kafka, Stevenson und Poe. Triumph der Tristesse.

Komm mit, miaut Timmy und führt mich raus zum Strand. Es ist Nacht und die Sterne leuchten, vor uns fährt die Gischt der Wellen Surfboard, von ihrem Schwerpunkt in der Mitte breiten sich weiße Feuerzungen nach links und rechts aus, Myriaden von Wasser- und Sauerstoffpartikeln tanzen ungezählte Pazifik-Cha-Cha-Chas. Ich hab das Meer noch nicht verstanden, ich beuge mich, ich empfinde Demut, die Masse, die Schwere, diese ganzen Emotionen, die darin stecken, das Rauschen, das Tosen, die Winde. Ich bewundere den Fährmann in Hesses Siddharta dafür, dass er dem Fluss zuhören konnte und immer stiller wurde. Einfach da sitzen, am Fluss, am schaukelnden Nass, zuhören und still werden, eine reizvolle Sache, murmel ich, aber bei dem ungreifbaren, unfassbaren, Energiewahnsinn vor mir, der sich selbst in tiefster Nascht ganz hinten noch vom Horizont abhebt, ein bombastisches, lebensschweres Unterfangen.

Kannst du dem Meer lauschen Timmy, verstehst du es?

Ja, das tut er, und er erzählt mir, dass das Meer sauer sei, wegen den Massen von Müll, die hier in Peru am Strand liegen und ich schau wieder vor mich, auf die Gischt-Licht-Spiele, auf das pazifische Totentänzchen und staune über die Unfassbarkeit. Ich blick nach oben, Orion hat sich jetzt fast 180 Grad gedreht, von Mitteleuropa aus betrachtet. Er steht auffem Kopf, lächel ich Timmy an, der wissen will, wie Orion aussieht und wo genau sein Kopf ist.
Beteigeuze, der rote Riese, fast so schön rot und mächtig wie Mars, der nicht weit von ihr weg steht und mir irgendwie auch immer so ein bisschen unheimlich und unfassbar erscheint, ganz so wie das Meer.

Gibt´s auch irgendwas, was dir keine Angst macht, fragt Timmy herausfordernd und stemmt seine Reptilien-Rüssel fest in den Boden und streckt seine Köpfchen weit zu mir raus. Schau mal da oben, am Zenit, Sirius, leuchtend hell, riesengroß und schlappe 86 Billionen Kilometer entfernt, die Brillanz, die Klarheit und die Kraft durchfluten mich, erheben mich. So gleicht sich alles aus, resümiert Timmy und watschelt zum Meer.

Ich schau wieder nach oben und bin fasziniert: Sirius hoch oben im Zenit, Orion direkt daneben und das so gut wie jede Nacht. In Europa ist Sirius immer nur am Horizont zu sehen, hier übernimmt er Wegas Part und ist der Chef, der alles vom Zentrum her steuert.

Massenmäßig ist der Himmel nicht umfangreicher als der in Deutschland, das Licht des Meerstädtchens, die ewigen dünnen Wolkenschleier verhindern eine Sternparade, aber klar und wunderschön ist es dennoch. Und Sternschnuppen so oft man will, eine zog mich ganz weit und tief ins Universum und leuchtete nach scheinbar ewiger Zeit gleißend hell und dreimal so groß wie Sirius auf. Ein Lichtfest mit Herz, ein Spalt in die Unendlichkeit.

Timmy, wo steckst du?

Ich gehe ins Meer, ich gehe ÜBERS Meer, posaunt er mir selbstsicher und pseudo-philosophisch zu.

Will er mich herausfordern?

Ich denke an diesen großartigen Roman dieses spanischen Autors, Im Rausch der Stille heißt er, und irgendwann in der Geschichte geht der Leuchtturmwärter raus aufs Meer und geht einfach darüber und der Leser hält den Atem an und weiß, dass es stimmt. Und eine Seite später lacht der Leuchtturmwärter und man erkennt, dass er auf Steinen, die man zuerst nicht sah aufs Blaue wanderte.

Brauchst du auch Steine?, frage ich Timmy. Doch der hört mich nicht mehr, hat sich schon mit dem Wasser vereinigt, wandernd, der Sternschnuppe folgend ...