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Vendetta

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Blutrache auf Korsisch

»Was für eine schreckliche

Sitte Eure Vendetta doch ist!«

»Was wollen Sie?

Wir tun unsere Pflicht.«


Maupassant

Heute existiert auf Korsika keine Vendetta mehr, aber jene Dörfer, die Schauplatz einer Blutrache waren, bleiben davon geprägt. Wie beispielsweise Parata in der Castagniccia, wo eine Familie völlig ausgerottet wurde, weil ein Großvater es gewagt hatte, ein kleines Mädchen auszuschimpfen. In Venzolasca, in der Casinca, brachten sich sechsunddreißig Jahre lang die Sanguinetti und Paoli wegen einer simplen Kataster- und Kastanienbaumgeschichte gegenseitig um. Noch besser: in Pozzo-Mezzana (Castagniccia) gab es vierzehn Tote wegen eines gestohlenen Gockels! Man braucht nur ein bißchen nachzuhaken, und schon stößt man überall auf Korsika auf dergleichen unglaubliche Geschichten.

Der überlieferten korsischen Überzeugung zufolge bedeutete ein Mord oder eine schwere Beleidigung ein Angriff auf die Ehre der Familie des Opfers. Eltern, Brüdern und Schwestern oblag es nun, für Gerechtigkeit zu sorgen und das Vergehen bis hin zum Mord an dem Schuldigen zu sühnen. Dieses eigenmächtige Vorgehen löste eine Art unerbittlicher Guerilla zwischen zwei verfeindeten Sippen ein und desselben Dorfes aus. Man stelle sich nur mal heute einen ahnunglosen Touristen vor, der in die Vendetta eines abgelegenen Dorfes hineinplatzt!

Die Vendetta ließ sich oft Zeit, aber sie endete nicht selten mit der Auslöschung der einen oder anderen Familie oder mit der Flucht des Haupträchers in die Macchia. Dieser wurde dann zum »Banditen aus Ehre«: nachdem er die Seinen gerächt hatte, versteckte er sich vor den Gendarmen im Dickicht der Macchia, wobei er seitens der Dorfbevölkerung, die ihm Respekt zollte und mit Nahrungsmitteln versorgte, wohlwollende Neutralität genoß. Muß man daraus schließen, dass die Korsen grundsätzlich gewalttätig, rachsüchtig und blutrünstig sind? Nein, aber sie sind leicht zu kränken. Davon einmal abgesehen, ist einer der Ursprünge für die Vendetta in der Geschichte zu finden.

Da die Korsen den Eroberern im Laufe ihrer wechselvollen Geschichte – also Römern, Sarazenen, Genuesen, Pisanern usw. – stets ablehnend gegenüberstanden und deren Gesetze nur zum Teil anerkannten – wer wollte es ihnen verdenken? – griffen sie zur Regelung von Konflikten meist recht schnell zum Gewehr. Mißtrauen den Gesetzen gegenüber wurde völlig normal. Im Laufe einer Reportage wurde ein korsischer Bauer von einem Journalisten gefragt, was für ihn Gerechtigkeit bedeute. Darauf antwortete dieser: »Gerechtigkeit, das ist ... das, was richtig ist ... Für mich und meine Familie ...«. Getreu dem alten korsischen Sprichwort: »Laß das Gute zunächst den Deinen angedeihen, dann kümmere dich um die anderen, wenn du kannst«.

Wer mehr über die Vendetta erfahren möchte, möge die Novelle »Colomba« von Prosper Mérimée lesen. 1839 besuchte Mérimée die Insel in seiner Eigenschaft als Inspektor für historische Denkmäler. Allerdings fühlte er sich bald mehr von den Charaktertypen als von den alten Steinen angezogen. Als er durch das Dorf Fozzano in der Nähe von Sartène kam, wurde ihm die Geschichte einer Vendetta erzählt, die im Jahre 1833 zwei Familien zu Feinden machte: die Carabelli und die Durazo. Vor allem lernte er Colomba kennen, die zukünftige Heldin seines Romans, »welche sich in der Herstellung von Patronen besonders hervortut und sie auch gegen solche Personen anwendet, die sie nicht gut leiden mag«.

Mérimée begann, eine Art Leidenschaft für die Vendetta zu entwickeln, in der er eine veraltete und wilde Form des Duells zu erkennen glaubte, und schmiedete aus diesem Material das Thema seiner Novelle. Die Handlung, eine Mischung aus Erlebtem und Dichtung, zeigt aufs Deutlichste, wie in Korsika der Sinn für Ehre und Blutbande alles andere verdrängt, sobald es darum geht, einen geliebten Menschen zu rächen. Eine unerbittliche Logik, bei der die Leute einer von außen kommenden, seltsamen Gesetzmäßigkeit zu folgen scheinen ... ein bißchen wie in den griechischen Tragödien. Mérimées Novelle wurde 1841, also zwei Jahre nach seiner Reise, veröffentlicht; sie wurde ein Riesenerfolg, aber das Klischee des unerbittlichen, grausamen Korsen verankerte sich daraufhin noch fester in den Köpfen der belesenen Festlandsfranzosen – und natürlich um so mehr in jenen der ungebildeten ...