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Agriates-Wüste

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Désert des Agriates

»Man denkt an ein riesiges Knochenfeld, ein Haufen trostloser, zu Stein gewordener Schwellungen oder Blasen ... Die Hitze lastet wie im Inneren eines Kupferkessels ... In diesem entlegenen und beunruhigenden Landstrich kommt die Fantasie alsbald vom rechten Weg ab: die Dolmen verwandeln sich zu Menschenfresserbooten und die Brücken sind Werke des Teufels ...« so die Schilderung des Romanciers Pierre Benoit in »Les Agriates«. Recht hat er: es handelt sich um ein rohes Stück Urnatur, das heute als der bestgeschützte Landstrich auf Korsika betrachtet wird.

So weit das Auge reicht überzieht eine üppig wachsende, undurchdringliche, dornige und doch mit tausenderlei Düften aufwartende Macchia diese seltsame Gegend mit ihren felsigen Vorsprüngen, nur von ein paar Rinnsalen durchzogen, die zuweilen kleine Weiher und die einzigen Oasen in dieser unerträglich heißen Umgebung bilden. Hier gibt es nichts, oder so gut wie nichts: keine bewohnten Dörfer, keine Häuser – höchstens an der D 81: bestenfalls verfallene Schäfereien und die Pagliagj, kleine, mit Teghje-Schiefer gedeckte Hütten. Keine einzige Straße, nur Schotterwege in einem erbämlichen Zustand – ein Glück eigentlich. Abenteuer- und Fegefeuerwege vor dem Paradies in Gestalt der feinen Sandstrände von Saleccia und Malfaco.

Zwischen Balagne im Westen und Cap Corse im Osten säumen vierzig Kilometer wunderschöne, intakte Küsten die »Wüste«. Korsika in seiner ursprünglichsten Gestalt, an der die Zeit spurlos vorübergegangen ist. Und es hat weiß Gott die verrücktesten Pläne für diese Gegend gegeben: z.B. die Idee, in diesem unwirtlichen, fast menschenleeren Landstrich eine Atomversuchsanlage einzurichten – die Franzosen sind für ihre diesbezügliche Experimentierfreudigkeit ja bekannt – oder die Désert des Agriates in ein riesiges Freizeitzentrum mit Ferienklub, Betonbungalows, riesigen Hafenanlagen und dergleichen zu verwandeln. Die Rothschild-Bank besaß sogar schon einen Großteil des Grund und Bodens (man spricht in diesem Zusammenhang heute noch von der Piste Rothschild), bevor das für den Landschaftsschutz zuständige Conservatoire du Littoral zwischen 1979 und 1989 den Küstenstreifen allmählich wieder zurückkaufte. Uff! Irgendwie sind wir erleichtert, diese Symphonie aus Felsen, Licht und Wind nun endgültig vor dem Zugriff der Immobilienhaie geschützt zu wissen

Ein heimtückischer, grausamer und umbarmherziger Feind ist dieser Gegend jedoch erhalten geblieben: das Feuer. Die letzte große Feuersbrunst wütete hier 1992. Innerhalb von zwölf Minuten wurden dreitausend Hektar Macchia (und leider auch Olivenbäume) ein Raub der Flammen. An diesem Tag blies der Mistral mit einer Geschwindigkeit von hundertfünfzig Kilometern in der Stunde. Seither hat das Leben aber wieder fußgefaßt und die Macchia ergrünt, als erstünde sie inmitten der verkohlten Büsche aus ihrer Asche wieder. Auch das war ein schöner Konjunktiv!

Größte Naturlandschaft an der Mittelmeerküste

Handelt es sich tatsächlich um eine Wüste? Nein, denn Wasser ist vorhanden, und zwar in Form von Bächen, Quellen und Teichen in Meeresnähe. Und Tiere gibt´s zuhauf! Gutmütige Kühe käuen faul am Strand wieder, Wildschweine verstecken sich im Gebüsch, überall Hasen, Rebhühner, Grasmücken und große, braun- bis orangefarbene Schmetterlinge, nicht zu vergessen die Schaf- und Ziegenherden. Im Frühjahr duftet alles nach den vielfältigen Gewächsen der Macchia: Erdbeerbaum, Rosmarin, Lentiske (Mastixstrauch), Myrthen und Korsische Zistrosen. Der Beweis, dass hier eine Menge wächst. Als Genua auf Korsika noch das Sagen hatte, pflanzten die Bauern Korn in kleinen Parzellen an, durch niedrige Steinmauern – von denen heute noch Überreste zu sehen sind – abgeteilt. Les Agriates galt damals sogar als Kornkammer der Republik Genua. Heute ist es das Gelobte Land der Umweltschützer.