Machen wir ein Buch?

Reise, Sachbuch, Belletristik ...?
Alle interessanten Themen;
alles was bewegt.

Hier geht´s weiter!

Sartene

Body: 

Prozessionen und Strände im Herzen Korsikas (20100)

Wird wie »Sarté« bzw. »Sarteh« ausgesprochen (es soll ja immer noch Zeitgenossen geben, denen die Sprache Molières ein Buch mit sieben Siegeln ist). Sartène ist nun wirklich die korsischste aller korsischen Städte, Inbegriff all dessen, was mit dem Wort »corsitude« gemeint sein kann. Das sieht man schon an der Farbpalette: grau wie die engen Gassen und strengen Fassaden von Sartène, rot wie das Rathaus von Sartène, schwarz und rot wie die Karfreitagsprozession von Sartène (Procession du Catenacciu). Zusammen ergibt das freilich keine Touristenattraktion, obwohl auch zwei einladende Strände zu der Gemeinde gehören, die rein flächenmäßig die zweitgrößte in Frankreich sein soll. Allerdings liegt der Ort nicht unmittelbar am Meer. Genießen wir also die Ruhe.

Aus der Geschichte

Die Stadt auf dem felsigen Vorgebirge war zunächst ein ansehnliches Lehen, das allerlei Begehrlichkeiten weckte. Die Genueser machten Sartène zur Zitadelle. Im 16. Jh. plünderten nordafrikanische Seeräuber, die Barbaresken, die Stadt und führten hunderte der Einwohner in die Sklaverei (s. unseren Reiseführer »Tunesien«, am besten auch gleich alle anderen von uns, hah!). Großgrundbesitzer in der Umgebung sorgten dafür, dass Sartène lange treu zu Genua stand. Die Unabhängigkeitskämpfer im 18. Jh. mußten sie deshalb lange belagern. Obwohl das Nest mit seinen schmalen, turmartigen Häusern zuweilen wie eine einzige große Festung wirkt, ist von der mittelalterlichen Befestigung nicht viel mehr übrig als ein Ecktürmchen aus dem 12. Jh. das auf einer Mauer sitzt.

Nach der Julirevolution von 1830 führten ganze Stadtviertel jahrelang einen blutigen Kleinkrieg gegeneinander. Gregorovius schreibt zu diesen Auswüchsen der Vendetta:
»Der Ort hatte sich schon im Jahre 1815 in zwei Parteien geteilt, in die Anhänger der Familie Rocca Serra und die der Familie Ortoli. Jene sind die Reichen und bewohnen das Viertel Santa Anna, diese die Armen und bewohnen den Borgo. Beide Fraktionen hatten sich verschanzt, die Häuser gesperrt, die Fenster geschlossen, taten Ausfälle aufeinander und erschossen und erdolchten sich mit großer Wut. Die Rocca Serra hatten der Gegenpartei den Eintritt in ihr Viertel untersagt, aber die Ortoli wollten ihn ertrotzen und zogen eines Tages mit Fahnen nach Santa Anna. Augenblicklich schossen die Rocca Serra aus ihren Häusern, töteten drei Menschen und verwundeten andere. Dies war das Signal zu einem blutigen Kampf. Des folgenden Tages kamen viele hunderte Bergbewohner mit ihren Flinten herab und belagerten Santa Anna. Die Regierung schickte Militär, aber obwohl dieses scheinbar Ruhe schaffte, lagen die beiden Parteien immerfort gegeneinander zu Felde und töteten sich viele Leute. Die Spannung dauerte noch lange fort, wenngleich die Rocca Serra und Ortoli nach einer dreiunddreißigjährigen Feindschaft am Feste der Präsidentenwahl Louis Napoleons (1851) zum erstenmal sich versöhnlich genähert hatten und ihre Kinder miteinander tanzen ließen.

Brauchtum

Wohl denen, die sich am Karfreitag in Korsika aufhalten und an einer Catenacciu-(Büßer)-Prozession teilnehmen können. Dieses faszinierende und erschütternde Schauspiel wird in Erinnerung an den Leidensweg Christi aufgeführt und soll den Gegensatz zwischen dem lebenden und toten Christus zum Ausdruck bringen. Ein Mann in geschlossener roter Kapuzenkutte stellt den Catenacciu, den »Geketteten« oder »Kettentragenen« dar. Barfuß schleppt er ein dreißig Kilogramm schweres Kreuz und eine Fünfzehn-Kilo-Kette am Bein, die auf dem Pflaster ordentlich scheppert und dieser Prozession den Namen »catenacciu« gegeben hat. Wie Christus auf dem Kreuzweg fällt er dreimal hin und erhebt sich wieder. Sowohl ihn, wie auch den weißgekleideten »Kleinen Büßer«, der ihm beistehen und aufhelfen darf, wie Simon von Kyrene Christus geholfen hat, kennt nur der Priester.

Darauf folgen die schwarzen Büßer in Kapuzen – ein gespenstischer, unheimlicher Anblick – die den »toten Christus«, eine schöne hölzerne Christusfigur mit gebrochenen Gliedern, auf einem Leintuch schleppen. Dann kommen der Stadtrat in schwarzen Talaren und dahinter wehklagend – Perdono, mio dio – mio dio perdono – die Menge der Gläubigen. Die Prozession vollzieht sich in den engen Gassen der beleuchteten Stadt, in einer Atmosphäre sich steigernder Erregung. Die Menge wüßte gern, wer der Große Büßer ist, und versucht ihn zu Fall zu bringen. Die Lieder ähneln eher Schreien als Melodien. Dieses Schauspiel ist besonders ergreifend vor den Kapellen Manighella und St. Sébastien und unter dem Bogengewölbe des Rathauses. Der Umzug findet auf dem Platz in der Stadtmitte sein Ende, wo der Geistliche seine Predigt inmitten einer beeindruckenden Stille hält. Dann segnet er mit dem »toten Christus« die kniende Menge.

Fragt sich nur noch, was der arme Tropf ausgefressen hat, der sich derart abschleppen muß. Es muß was Schlimmes sein, denn Großer und Kleiner Büßer haben sich teils schon vor Jahren vormerken lassen. Von der ursprünglichen Religiosität blieb natürlich dank massenhafter Anwesenheit von Touristen, Fernsehen und anderer Medien einiges auf der Strecke.