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GESCHICHTE UND GESELLSCHAFT

VOLKSGRUPPEN

Die anderen »Wilden«

Wenngleich Indianer und Inuits im Laufe der Jahrhunderte immer weiter zurückgedrängt wurden, waren sie natürlich vor den Europäern da: sie sollen vor 10.000 bis 30.000 Jahren über die Beringsee und die damals bestehende Landbrücke von Asien zum Yukon aus Sibirien eingewandert sein. Ihre Beziehungen zum weißen Mann beschränkten sich lange Zeit größtenteils auf Entschädigungszahlungen für die erlittene Ungerechtigkeit oder für kommende Übergriffe.

In den neunziger Jahren erwachte das politische Bewußtsein bei den kanadischen Inuits neu und schlug sich in Abkommen mit der Regierung in Ottawa nieder: 1992 beispielsweise, als den Eskimos formale Besitztitel über 350.000 Quadratkilometer Land im Osten der Northwest Territories und knapp 600 Millionen Dollar zugesprochen wurden. Gegenleistung: der Verzicht auf die »besonderen Eingeborenenrechte«. Jahrhundertelang hatten die kanadischen Eskimos in nahezu völliger Isolation vom Rest der Welt von der Jagd gelebt. Erste, sporadische Kontakte ergaben sich mit Entdeckungsreisenden, im 19. Jahrhundert dann mit dem Auftauchen der ersten Walfangflotten und durch die zunehmende Bedeutung des Pelzhandels.

Nur wer in Kanada heute als Indianer anerkannt ist, gilt nach einschlägigen bundesrechtlichen Bestimmungen auch als solcher und genießt bestimmte Rechte und Privilegien. Bis Mitte der achtziger Jahre galt die diskriminierende Regelung, dass eine »registrierte« Indianerin ihren Status verlor, wenn sie nicht einen »registrierten« Indianer heiratete. Dagegen erwarb eine Frau, welche die Ehe mit einem registrierten Indianer einging, den Status einer »registrierten« Indianerin. Dies änderte sich erst 1985 mit der »Charta der Rechte und Freiheiten«. Frauen, die ihren Status aufgeben mußten, als auch deren Kinder haben seither die Möglichkeit, ihren einstigen Status bzw. die Erstregistrierung wiederherstellen zu lassen. Über die Hälfte der registrierten kanadischen Indianer lebt in sogenannten Reservaten, d.h. in Gebieten, die aufgrund vertraglicher Regelungen bzw. nach dem »Indian Act« (1876) der ausschließlichen Nutzung durch Indianer vorbehalten sind. Die rund sechshundert Siedlungsgemeinschaften verteilen sich auf über zweitausend solcher Reservate - ländliche, z.T. isolierte Landesteile - und sind in sogenannten »Bands« zusammengeschlossen.

Bei ihren Landansprüchen berufen sich die kanadischen Indianer ihrerseits auf historische Abkommen und Absichtserklärungen der britischen Krone. In der »Proklamation von 1763« hatte diese die Indianer formal zwar enteignet, erkannte deren grundsätzliche Landansprüche aber an. Übrigens keineswegs aus reiner Menschenliebe, sondern aus kaltem politischem Kalkül: die Briten brauchten die Indianer als Verbündete gegen Franzosen und US-Amerikaner. Es wurden aber nicht mit allen Stämmen Verträge abgeschlossen, so dass schon in den siebziger Jahren auf Betreiben der Indianer Verhandlungen über weite Gebiete im Norden des Landes und in British Columbia aufgenommen werden mußen. 1982 ging´s dann richtig los, als die neue Verfassung u.a. den Indianern »existierende Eingeborenenrechte« verbriefte. Dabei ging es in der Hauptsache um Landrechte, Ausbeutung der Bodenschätze sowie um staatliche und kulturelle Eigenständigkeit. Finanzielle Abfindungen ließen sich bei den teilweise noch laufenden Verhandlungen verhältnismäßig leicht erreichen, während es mit der angestrebten Souveränität haperte. Dabei äußern die meisten Stämme ihren Willen, Kanadier bleiben zu wollen!

Von sich reden macht der indianische Widerstand, häufig unterstützt von Umweltschutzverbänden, auch in der europäischen Presse, etwa wenn Mohikaner bei ihrem Kampf gegen einen Golfplatz (für Weiße natürlich!) das Kriegsbeil ausgraben (Montreal 1990), wenn Inuits und Indianer gemeinsam gegen NATO-Tiefflieger zu Felde ziehen (Neufundland) oder wenn die Cree einen gerichtlichen Teilerfolg gegen die gigantomanischen Stauseepläne der Provinzregierung in Quebec erringen (1992). Ob ihr politischer Einfluß in Kanada weiter zunimmt, wird die Zukunft erweisen. Nicht zuletzt werden findige Juristen dort in die Bresche springen müssen, wo das schlechte Gewissen der weißen Kanadier zur Schaffung gerechter Verhältnisse nicht ausreicht.

Ursprünglich teilten sich fünf große Indianerstämme das kanadische Territorium, darunter Algonquin-Indianer, Beothuks, Sioux, Irokesen, Huronen und Inuits (oder Eskimos). Letztgenannter Stamm bevorzugt jedoch die Bezeichnung »Inuit«, was soviel bedeutet wie »Mensch«, während Eskimo die Bezeichnung für einen »Rohfischesser« ist!

Heutzutage bleibt in Kanada jede Gemeinschaft, seien es Indianer, Frankophone oder Anglophone, unter sich, allerdings nicht ohne die andere mißtrauisch zu beäugen. Dieser Umstand wird etwa bei der Namensgebung deutlich: ein Flecken an der Hudson Bay wird von den Frankophonen »Poste-de-la-Baleine«, von den Anglophonen »Great Whale«, von einem Teil der Indianer »Whapmagoosti« und von den Inuits »Kuujjuarapik« genannt! Dasselbe Phänomen findet sich mitten in Montreal wieder, wo ein Boulevard, der sich durch frankophones und anglophones Gebiet zieht, auf der einen Seite »René Levesque«, auf der anderen »Dorchester« heißt ...

Die »weißen Neger« Amerikas

Das Industrieimperium der Anglokanadier, das sich an den Ufern des Lachine-Kanals in Montreal erstreckte, gehört der Vergangenheit an. Im Verlauf der letzten drei Jahrzehnte haben die Frankokanadier nach und nach die wirtschaftliche Macht übernommen. Diesen Vorgang bezeichnet man als »stille Revolution«. Die Golden Square Mile unterhalb des Mont-Royal war in den Händen einiger großer anglophoner Familien, und in der Schwerindustrie beschäftigten sie billige, französischsprachige Arbeitskräfte. Die »weißen Neger Amerikas« genannt, lebten die Frankokanadier, unterdrückt von anglophoner Minderheit und Klerus, in einer wirtschaftlichen Lage, die jener der Iren im Jahrhundert zuvor nahekam: kinderreiche, den Katholizismus praktizierende Familien ohne Bildung fristeten ihr Dasein in wirtschaftlichem Elend unter britischer Herrschaft.

Leonard Cohen, selbst Anglokanadier jüdischer Abstammung, der in der Golden Square Mile das Licht der Welt erblickte, erzählt in seinen Büchern von seiner Kindheit auf dem Mont-Royal. Jude unter Protestanten, Künstler inmitten von Finanzdynastien, beneidete er die kleinen Frankokanadier, die vom Pfarrer zum Tanz oder in die Kirche begleitet wurden und unnahbar blieben. Cohen war ein doppelt Fremder im eigenen Land, denn er gehörte weder zu der anglophonen, noch zur frankophonen Seite. In den für die zeitgenössische Literatur bedeutenden Romanen »Beautiful Losers« (»Schöne Verlierer«) und »The Favorite Gamea« (»Das Lieblingsspiel«), die in den sechziger Jahren entstanden, spiegelt sich die Komplexität der in Quebec lebenden Gesellschaft anschaulich wider. Als Dichter, Autor und vor allen Dingen Sänger eigener Lieder genießt Cohen internationales Ansehen. In Quebec dagegen ruft sein Name nur Schulterzucken hervor. Wieder einmal leben die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen aneinander vorbei, ohne den Versuch zu unternehmen, in einen Austausch zu treten und sich zu verständigen.



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