Einleitung

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Westminster und St. James

Eines schönen Sommermorgens im Jahre 1802 überquerte ein junger Mann die Brücke
von Westminster, unterwegs zum Kontinent: es handelte sich um William Wordsworth,
der meistgelesene romantische Dichter in England (wenngleich sich viele Schüler
dieser Übung nur maulend unterziehen). Jeder kennt sein Gedicht Upon Westminster
Bridge:

This City now doth like a garment wear

The beauty of the morning; silent, bare,

Ships, towers, domes, theatres, and temples lie

Open unto the fields and to the sky ...

Nun trägt die Stadt, wie ein Gewand die Frau,

Des Morgens Schönheit: schweigend jeder Bau

- Theater, Schiff, Turm, Kuppel, Tempel - steht

Vor Feld und Himmel, wo kein Lüftchen weht ...

Nicht ohne Humor weisen die Londoner gerne darauf hin, dass zwei ihrer großen
Institutionen sich in Form von stattlichen Palästen an der Themse gegenüberstehen:
die Kirche im Lambeth Palace am Südufer und der Staat im Parlament in Westminster.
Letzterer verdankt sein eigenwilliges Aussehen der traditionsbewußten Altertümelei
des 19. Jahrhunderts, wie so oft in London. Nach einem Brand, der 1834 das alte
Parlament zerstörte, dachten sich die Architekten Barry und Pugin ein verrücktes
neogothisches Bauwerk aus, voller Türmchen, Nischen und Wappen, mit Denkmälern
aller Herrscher von Wilhelm dem Eroberer bis zu Victoria geschmückt. Am Rande
vermerkt: Barry starb bei dieser Aufgabe an Erschöpfung, und Pugin endete in
einer Irrenanstalt.

Das Gebäude ist streng symmetrisch angelegt mit Ausnahme seiner zwei Türme,
dem Victoria Tower und dem berühmten Clock Tower, genannt Big Ben zu Ehren von
Benjamin Hall, der seinen Bau leitete. Die Uhrzeit wird immer wieder richtig
eingestellt, indem man einen Haufen (englischer) Münzen auf dem Plateau des
Uhrenpendels je nach Bedarf vergrößert oder verkleinert.

Getreu der nationalen Manie für Stilvermischungen und der Einbettung historischer
Denkmäler in moderne Hochbauten wurden der ehemalige Königspalast, eine Krypta
des 18. Jahrhunderts, das vom Heinrich VIII. im 16. Jahrhundert erbaute Kloster
St. Stephen und die Überreste der prächtigen Westminster Hall aus dem 11. Jahrhundert
(eins der schönsten Beispiele des Zimmerhandwerks in der Welt) in Westminster
integriert. In Westminster Hall hatte Richard II. zugunsten des Frondeurs Heinrich
Bolingbroke, des späteren Heinrich IV. von England, abgedankt. Shakespeare griff
dieses Ereignis in einer bewegenden Szene in Richard II. auf:

Richard VI.:
»Merkt auf, wie ich mich nun vernichten will:

Die schwere Last geb´ ich von meinem Haupt,

Das unbeholfne Zepter aus der Hand,

Den Stolz der Herrschaft aus dem Herzen weg,

Mit eignen Tränen wasch´ ich ab den Balsam,

Mit eignen Händen geb´ ich weg die Krone,

Mit eignem Mund leugn´ ich mein heil´ges Reich.«

Ebenfalls an diesem Ort wurde Karl I. im Jahre 1649 zum Tode verurteilt. Cromwell
wurde hier 1653 zum Lord Protector berufen und büßte fünf Jahre später seinen
Kopf ein, der dann dreiundzwanzig Jahre lang einen Pfahl zierte! Doch der notorischste
Verräter war natürlich Guy Fawkes, dessen Pulver-Attentat (gunpowder plot) das
Parlament bei der Eröffnungssitzung 1605 nur knapp entging. Noch immer wird
diese - verhinderte - Untat alljährlich am 5. November mit massenhaft Knallfröschen
und Feuerwerken gefeiert. »Remember, Remember the 5th of November«, rufen die
Kinder und verlangen von jedem Passanten einen Penny for the guy, wobei mit
Guy eine der hundertfach aus Altpapier und Lumpen hergestellten Puppen von Guy
Fawkes gemeint ist. Am Abend des 5. Novembers werden sie in zahlreichen Freudenfeuern
verbrannt und erhellen Parks, Grünanlagen, Plätze und Privatgärten in London.

Wohl entging Westminster der Pulver-Verschwörung, nicht aber den Bombardierungen
im letzten Weltkrieg: im Mai 1941 mußten die Unterhaus-Abgeordneten deshalb
entgegen jeder Tradition auf die roten Ledersitze des House of Lords (Oberhaus)
umziehen, jenem nämlich, dem der Lord Chancellor auf einem Woolsack (Wollsack)
vorzusitzen pflegt. So kann sich niemand der Einsicht verschließen, dass Englands
Reichtum vom Wollhandel stammt.