Die privaten öffentlichen Schulen

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Die privaten »öffentlichen Schulen«

Etwas abseits von den Wallfahrtsorten des Tourismus tut es gut, sich in einigen
sehr ruhigen, aber nicht weniger sinnbildlichen Straßen umzusehen. Durch das
Tor von Westminster Abbey gelangen wir zum Deans Yard, einem friedlichen Platz,
wo sich eine der renommiertesten Public Schools (»Öffentliche« Schulen) von
England, die Westminster-Schule, niedergelassen hat. Bei einer Public School
handelt es sich gemäß der unvergleichlichen englischen Logik selbstverständlich
um ein streng privates Institut, das seinen Zöglingen jene elitäre und strenge
Erziehung angedeihen läßt, die zum Symbol des alten England geworden ist. Public
heißt es, weil es Kinder aus dem gesamten britischen Reich aufnimmt, während
die wirklich öffentlichen Schulen für eine Gemeinde oder einen Stadtteil zuständig
sind. Eine verschwindend kleine Minderheit junger Engländer wird vom Kindergartenalter
an bis zum Gymnasium in Privatschulen unterrichtet, die freilich nicht alle
den Ruf des berühmten Eton, Rugby oder Harrow aufweisen, auch nicht deren Methoden.
Für die Aufnahme in eine dieser Independent Schools, wie sie sich selbst gerne
nennen, genügt es nicht, reiche Eltern zu haben, obgleich es hilft, denn die
Kosten belaufen sich leicht auf umgerechnet rund sechstausend Mark pro Trimester.
Zusätzlich werden die Bewerber mittels einer schwierigen Aufnahmeprüfung gesiebt.
Die Erziehung enthält alle Zutaten, die notwendig für die Bildung von Eliten
zu sein scheinen: kontinuierliches Sporttraining, das Studium vor allem der
Musik sowie der griechischen und der lateinischen Sprache, und eine grimmig
behauptete Hierarchie unter den Schülern. Diese leben unter der Fuchtel von
Älteren, den aufsichtsführenden Prefects, und von Gleichaltrigen, den Class
Leaders (Klassensprechern). Außerdem werden sie häufig auf rivalisierende »Häuser«
verteilt, deren Ehre, Farben und Losung sie verteidigen müssen. Diese Erziehung
wird von den meisten Briten als Ausdruck der Arroganz der Upper Class abgelehnt,
zugleich jedoch beneidet und respektiert. Jedenfalls hat sie beachtliche Erfolge
vorzuweisen. Zwar wird sie nur von sechs Prozent aller Schüler absolviert, doch
machen diese dann zwanzig Prozent der Studenten aus, obwohl auch die Universitäten
ein strenges Auswahlverfahren anwenden. Die traditionellen Schulen haben es
verstanden, sich den naturwissenschaftlichen und technischen Anforderungen anzupassen,
und gelten heute als Avantgarde des neuen Unternehmergeistes, oft als »Thatcherismus«
bezeichnet. Das deutlichste Beispiel für diese Entwicklung stellt eben die Westminster
School dar, 1560 von Elisabeth I. gegründet und noch immer in den Räumlichkeiten
aus dem 16. Jahrhundert untergebracht, wo die Arbeitstische aus dem Holz der
spanischen Armada gezimmert sind. Gewisse mit den historischen Anfängen der
Einrichtung verbundene Vorrechte kommen den Schülern zugute: sie dürfen beispielsweise
an der Krönungszeremonie teilnehmen. In Westminster Abbey führen sie jedes Jahr
Komödien von Plautus oder Terenz auf, gespickt mit lateinischen Anspielungen
auf das politische Tagesgeschehen. Andererseits kann ihnen in Informatik keiner
etwas vormachen. Ihr Sinn für Business wird frühzeitig gefördert und erprobt,
indem sie ermuntert werden, eigene Unternehmen innerhalb der Schulmauern zu
gründen, deren Profite auch dort reinvestiert werden.

Hinter Deans Yard verlaufen erstaunlich ruhige Straßen mit schönen georgianischen
Häusern, in denen viele Mitglieder des Parlaments ihr Zimmer haben, das sie
nur während der Sitzungsperiode benutzen, da sie nach Art jedes Engländers,
der das nötige Geld dazu hat, fast alle »auf dem Land« (also in einem Dorf)
wohnen. Etwas weiter, hinter der Lord North Street, kommt man zu einer seltsamen,
barocken Kirche mitten auf dem Smith Square: St. John. Der Legende zufolge verdankt
sie ihre unzeitgemäße und wuchernde Gestalt einer Laune der Königin Anne. Vom
Architekten Thomas Archer 1713 gefragt, welche Art von Kirche sie gerne hätte,
stieß sie einen Hocker um und deutete darauf mit den Worten: »So eine«.