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Die Docklands

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Die Docklands

Die Docklands auf den ehemaligen Docks des Londoner Hafens sind die gewaltigste europäische Baustelle des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Die fünfzehn Quadratkilometer, auf denen das englische Industrie- und Kolonialzeitalter gedieh, sollen zu einer neuen Stadt mitten in London ausgebaut werden. Die Londoner haben die Herausforderung angenommen - mit der üblichen Entschlossenheit und ihrer traditionellen Verachtung allen Planens gegenüber. Nach der halbwegs abgestimmten Anlaufphase, die wenig Begeisterung hervorrief, überließ die Regierung die Isle of Dog (Hundeinsel) als »freie Unternehmenszone« dem Appetit der Baulöwen. Dies war das Startsignal für einen Ansturm, der aus dem unvollendeten, mit Bauschutt überhäuften Viertel eins der teuersten Pflaster dieser Welt machte. Die Regierung wies die allseitigen Vorwürfe wegen ihrer extravaganten Entscheidung mit dem Hinweis zurück, dass doch immerhin Arbeitsplätze geschaffen worden seien.

Ein Rundgang durch dieses entstehende Viertel ist durchaus eindrucksvoll. Kräne zergliedern den Raum, in dem alle Baustoffe Verwendung finden: Glas, Aluminium, Ziegel, Holz und Beton. Neue Siedlungen wachsen auf gut Glück. Alte Lagerhäuser werden erhalten, andere durch seltsame Jachthäfen ersetzt, deren Anwohner darauf bestehen, in den alten Becken bei eisigem Wind zu surfen. Hier wird einfach wild drauflos gebaut, ob gut oder schlecht.

Mitten im Dockland ragt wie eine Festung das Gebäude der Times empor, die wegen heftiger sozialer Konflikte wie eine Kaserne bewacht wird. Außerdem gibt es hier den neuen Billingsgate-Markt, einen Flughafen, alle möglichen Residenzen, die per »Vaporetto« (Schiff) zugänglich sind, sowie eine neue, vollautomatische Eisenbahn, den Dockland Light Railway, der zwar keinen Zugführer mehr braucht, zu Zeiten aber einen Kontrolleur, einen Informatiker und mehrere Ingenieure - behaupten die Spötter. Wenn er nicht gerade eine Panne hat, bringt er seine Fahrgäste in wenigen Minuten vom Londoner Tower zum Dockland, in kleinen, panoramaverglasten Waggons, die so sehr an Spielzeuge erinnern, dass jeder darauf gefaßt ist, mitten in Disneyland wieder auszusteigen. Dabei könnte das Dockland eher mit der Landschaft der Metropolis des Regisseurs Fritz Lang verwandt sein.

Die moderne Dockland-Baustelle wiederholt den viktorianischen Traum, der sich in der Errichtung der Wharfs (Lagerhäuser) und der Warendepots verwirklicht hatte. Ein 1802 veröffentlichter Prospekt wäre die beste Werbung für die neuen Bauherren: »Wer Gelegenheit hat, die West India Docks und ihre Ausläufer zu besichtigen, wird überwältigt sein von ihrer Größe sowie von der darin investierten Intelligenz, dem Sachverstand und der Mühe für dieses kaiserliche Werk, das von vergangenem Ruhm zeugt und künftigen Wohlstand verheißt.« Glaubt man den für das Dockland verantwortlichen Regierungsbeamten, so steht Großbritannien an der Schwelle einer neuen, triumphalen Ära: »Als Brunel die Docks im vorigen Jahrhundert anlegte, galt es, einen Teil des wachsenden Weltmarktes zwischen Ost und West zu erobern. Großbritannien siedelte auf seinen Docks Geschäfte an, dank derer es zur mächtigsten Nation der Welt aufstieg. Der Leitgedanke für das neue Dockland unterscheidet sich lediglich insofern, als die vom Big Bang stimulierten Finanzmärkte angesprochen werden sollen. Die Isle of Dogs wird Mittelpunkt eines neuen Imperiums sein, des Kapitals.«

Es tut daher not, die industrielle Landschaft der alten Docks zu beseitigen und zu transzendieren. Jene sind in all ihrer Schwärze und Düsterkeit zum Symbol des Elends, der Arbeitslosigkeit und des britischen Zerfalls geworden. Sie waren das Ergebnis der Begegnung zweier entgegengesetzter Gesellschaftsklassen: den im imperialen Handel engagierten Finanzleuten der City und den Hafenarbeitern mit ihren Familien, welche die besonderen kulturellen Traditionen des East End pflegten. Dieser Gegensatz hat sich heute noch verschärft: zwischen den Wohnklötzen (Council Houses) der Ärmsten ragen moderne Gebäude mit so exorbitanten Mietpreisen auf, dass sich nur die Yuppies aus der City dort eine Wohnung leisten können.

Mit der Dockland Light Railway können Sie auch bis zur Station Mudchute mitten im Dockland fahren, um »die Schafe anzuschauen«. Das Glück der Londoner wäre nicht vollkommen ohne diese Tiere, die sie in ihrer Freizeit streicheln und loben. Der Mudchute-Hof erinnert daran, dass viele Londoner Stadtteile früher Bauerndörfer waren. Der Name Muchchute stammt daher, dass hier einst der sich in den Hafenbecken absetzende Schlamm abgelagerte wurde.

Derselbe Zug führt bis zu dem Jagdrevier Island Gardens am Ende der Hundeinsel. Hier wurden die königlichen Meuten abgerichtet. Auf dem anderen Themseufer sieht man das Observatorium von Greenwhich oben auf dem Hügel, und weiter unten einen der schönsten Plätze der englischen Renaissance: das Queen´s House, erbaut nach den Plänen von Inigo Jones, und das Royal Naval Hospital von Christopher Wren.

Greenwich

Inigo Jones, geboren 1573, nahm als erster Engländer den Einfluß von Palladio auf und verfremdete dessen Stil in seinen Londoner Bauwerken. Neben dem Königspavillon in Greenwich und dem Festsaal in Whitehall schuf er die Gärten von Lincoln´s Inn und die Piazza in Covent Garden, wovon die kleine St. Paul-Kirche übriggeblieben ist, die Jones als die »schönste Scheune Londons« gepriesen hatte.

Wren entsetzte ein Jahrhundert später Königin Henriette, die Gemahlin von Karl II., mit seinen Plänen für das Royal Naval College: ihre Verwirklichung hätte den Blick auf den Pavillon der Königin von Inigo Jones völlig verbaut. Wren mußte sein Vorhaben ändern. Deshalb zwängt das Royal Naval College den Palast der Königin Anne ein, jedoch ohne ihn zu verdecken. Und somit stellt sich dem
Blick des Betrachters am Themseufer, das hier venezianische Züge annimmt, gleichzeitig das Werk der beiden brillantesten englischen Architekten dar. Wer es ausgiebig und ungestört bewundern will, sollte den Fluß zu Fuß durch einen seltsamen unterirdischen Gang (Greenwich Footpath) aus dem Jahre 1902 durchwandern und anschließend gleich Greenwich besichtigen. Das bekannte Observatorium krönt den Hügel hinter den klassischen Bauten. Sein Meridian zeigt die Weltzeit an. In seinem Roman Der Geheimagent machte Joseph Conrad das Observatorium zum Ziel vermeintlicher Terroristen.

Im Dorf stehen schöne Häuser im reinsten Baustil des 18. Jahrhunderts, eine Kirche von Hawksmoor, St. Alfege, und ein kleiner Friedhof - typisch insofern, als die alten Grabsteine in mehreren Reihen entlang der Kirchenmauern aufgestellt wurden, so dass die Kirche nur noch Rasen umgibt.

Auf dem Weg zum Royal Naval College empfiehlt es sich, ein Glas Bier im Trafalgar Tavern zu leeren, einem besonders gemütlichen Pub, der sachte im Wasser zu versinken scheint. Diese Stimmung nehmen Sie dann am besten auf das Schiff mit, das Sie am Landesteg in der Nähe von Cutty Sark, dem letzten und bekanntesten Tee-Clipper, heute als beeindruckendes Galeonsfiguren-Museum eingerichtet, besteigen können. So eine Flußfahrt, bei Sonnenuntergang zumal, ist der malerischste Rückweg ins Herz von London, die denkbar spektakulärste und ergreifendste Annäherung an eine Hauptstadt.