Gastfreundschaft

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Gastfreundschaft

Xenos meint zugleich Gast und Fremder. In der doppelten Bedeutung dieses Wortes
- voller historischer und kultureller Nebenbedeutungen, faßt es die Anschauung
eines ganzen Volkes über sein Verhältnis zu den anderen zusammen - steckt einfach
alles: Freunde und Feinde, Nachbarn und unbekannte Passanten, Herren und Sklaven.
Sehr früh schon wußten die Griechen, dass das Leben Überraschungen bereithält:
»Hütet Euch davor, einen Menschen glücklich zu nennen, bevor er nicht gestorben
ist; denn Ihr wißt nicht, was die Götter ihm vorherbestimmt haben«, raten uns
die Tragödiendichter. Wer heute noch König, kann morgen schon Untertan sein;
der Land- und Hausbesitzer als Bettler, Vagabund und Staatenloser erwachen.
»Laß die Fremden in dein Haus, denn eines Tages wirst auch du ein Fremder sein«,
lehrt uns ein altes Sprichwort. Der xenos ist den Griechen heilig, eine Person,
die den Willen der Götter, das allen Menschen gemeine Schicksal in sich trägt.

»Setz dich, Fremder, iß reichlich und ruhe dich aus; dann sag uns, wer du bist
und woher du kommst«, spricht Telemach, Sohn des Odysseus, zu Athene, die ihm
in Gestalt eines unbekannten Reisenden gegenübertritt.

Bis auf den heutigen Tag hat sich an diesem Ritual kaum etwas geändert; zumindest
auf dem Land, fernab der Fremdenverkehrszentren, wo das Verhältnis zum xenos
bisweilen unter rein wirtschaftlichen Aspekten gesehen wird. Wie Telemach wird
der Landbewohner Fremden zunächst zu essen und zu trinken anbieten und sie in
die sala bitten, den Empfangsraum für Gäste. Diese Einladung zurückzuweisen
- sie beruht auf einer Jahrtausende alten Tradition - käme einem groben Verstoß
gegen die Höflichkeit gleich. Wer sein Mittagessen bereits hinter sich hat,
nimmt eine Erfrischung an, eine portokalada oder ein Glas kühles Wasser; dazu
ein Stück Kuchen, eine Handvoll getrockneter Früchte oder einen Löffel Marmelade
von einem Tellerchen.

Das Gespräch kommt denkbar einfach in Gang; das Muster hat sich seit der Zeit
Homers kaum verändert: »Woher kommst du? Wer bist du? Bist du verheiratet? Hast
du viele Kinder?« Gefolgt manchmal von Fragen, die Ihnen noch indiskreter erscheinen
könnten: über Ihren Beruf, Ihre Arbeitszeit, Ihr Einkommen. Seien Sie versichert:
es handelt sich nicht um ein Verhör, sondern um einen völlig harmlosen Vorgang,
der dem Hausherrn einige Anhaltspunkte liefert, um Ihnen seine Lebensgeschichte
zu erzählen. Mit dem Öffnen seiner Tür öffnet er Ihnen sein Herz.