Die Kraft der Überlieferung

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Die Kraft der Überlieferung

Vornamen gestern und heute

Die Kraft der Überlieferung ist bisweilen an einfachen Dingen zu ermessen,
etwa dem Überleben bestimmter Vornamen. Aristoteles, Sokrates, Nestor, Achilles,
Athene, Antigone, Penelope oder Kalliope zu heißen ist nicht weniger ungewöhnlich
als in Israel den Namen David, Sarah oder, in den arabischen Ländern, Mohammed
oder Fatima zu tragen. Wie vielen anderen alten Völkern ist es den Griechen
gelungen, die Kontinuität ihrer Geschichte sicherzustellen. Während Fremde in
solchen Vornamen Anspielungen auf die Antike erkennen, sind diese für die Griechen
Teil ihrer Identiät und ihres Alltags.

Frauen

Helena, für welche die Griechen gegen Troja in den Krieg zogen, hat nichts
von einer Internatsschülerin im Gynäkeion; Klytämnestra nichts von einer unterwürfigen
und bescheidenen Gattin. Als sie Odysseus fast leblos am Strand findet, ergreift
die junge Nausikaa vor der männlichen Blöße nicht die Flucht, sondern geleitet
den Fremden in den Palast ihres Vaters und nimmt an den zu Ehren des Königs
von Ithaka veranstalteten Feierlichkeiten teil. Was die Ehefrau des letztgenannen,
die treue Penelope, angeht, so lenkt sie zwanzig Jahre lang die Geschicke des
Landes, verhandelt mit den Kronprätendenten, wirkt ausgleichend auf deren Intrigen
und schürt ihren Streit, um ungehindert regieren zu können.

Es heißt, der Frauenhaß (gr. Misogynie) sei erst nach der Eroberung durch die
Dorer aufgetreten. Dennoch erfreuten sich die jungen Mädchen in Sparta, einer
dorischen Stadt, weitgehender Freiheiten: sie widmeten sich genau wie die Männer
körperlichen Übungen in der Öffentlichkeit und scheuten sich nicht, bei dieser
Gelegenheit ihre Beine zu zeigen (bei den übrigen Griechen hießen sie phainomerides,
»die, welche ihre Schenkel sehen lassen«).

Sicher lebten auch die Frauen in Athen nicht wie Gefangene; dennoch zwang die
öffentliche Meinung sie dazu, den Forderungen eines strengen Moralkodexes zu
gehorchen. Unter anderem besaßen sie kein Wahlrecht, was Aspasia, die Lebensgefährtin
des Perikles, nicht daran hinderte, auf diesen einen starken Einfluß auszuüben
und ursächlich an einer Reihe von politischen Initiativen des berühmten Staatsmannes
beteiligt zu sein. In Medea führt Euripides heftig Klage gegen das ungerechte
Los der Frauen, und Sophokles - voller Mitleid mit Antigone - unterstreicht
eindringlich die furchterweckende moralische Kraft seiner Heldin, welche sie
in seinen Augen allen Männern der Stadt überlegen macht.

Aber die Lebensbedingungen für Frauen hingen auch von deren gesellschaftlicher
Stellung ab. Das Beispiel der Dichterin Sappho - sie leitete auf Lesbos eine
Schule für junge adlige Mädchen - legt uns den Gedanken nahe, dass in aristokratischen
Kreisen der Frau eine andere Rolle zukam als im einfachen Volk.

Die Verbreitung des Christentums während der byzantinischen Periode, aber auch
die dem Fall Konstantinopels folgende osmanische Besatzung im 15. Jahrhundert,
wirkten sich negativ auf den Status der griechischen Frau aus, die sich bis
zur Revolution 1821 gedulden mußte, um einen völlig neuen Platz innerhalb der
Gesellschaft ihres Landes einnehmen zu können. Zunächst sollte sie zur gleichwertigen
Kriegerin an der Seite ihres Mannes, Sohnes oder Bruders stehen; erfolgreich
die Verteidigung ihres Dorfes während der Abwesenheit der Männer sicherstellen,
die ihrerseits die Türken in den Bergen bekämpften; sich schließlich sogar zur
kapetanissa an der Spitze einer Rebelleneinheit und unerschrockenen Piratin
auf den Kriegsschiffen emporschwingen.

Als der Zweite Weltkrieg begonnen hatte, bildeten die Frauen im Epirus besondere
Einheiten zur Versorgung der in den albanischen Bergen gegen die Italiener kämpfenden
Armee. Munition auf ihrem Rücken transportierend, ersetzten sie die geschwächten
Verwaltungsbehörden des griechischen Heeres und trugen so zur Niederlage der
Soldaten Mussolinis bei.

Als die Deutschen ihrerseits Griechenland angriffen, beteiligten sich die Frauen
in hoher Zahl am Widerstand und nahmen 1947 auch aktiv am Bürgerkrieg teil:
1948 zählte die Volksarmee in ihren Reihen über zwanzigtausend Kämpferinnen!

Mitgift und Heirat

Seit Ende der vierziger Jahre erschütterten gesellschaftliche und wirtschaftliche
Veränderungen die Mentalität der Bevölkerung, ließen sie die in der Tradition
ruhenden Gewißheiten zerbrechen und sorgten neue Anschauungen für Verwirrung.
Der griechischen Familie blieb keine Zeit, sich an die - mit der Entvölkerung
des Landes und der Auswanderung in die Städte verknüpften - Umwälzungen anzupassen,
sich an die neuen Lebensgewohnheiten zu gewöhnen, die im Gefolge des industriellen
Kapitalismus Einzug in die gesellschaftlichen Abläufe gehalten hatten.

Richtig ist, dass das Rechtsinstitut der Mitgift nach parlamentarischer Abstimmung
im Dezember 1982 offiziell verschwunden ist - die Auswirkungen »an Ort und Stelle«
entsprachen indes nicht den Erwartungen des Gesetzgebers. Die traditionelle
Mitgift - in Form von Grund und Boden oder eines Hauses - hat sich gewandelt
zu Bargeldzahlungen, die es dem jungen Paar vom Lande ermöglichen sollen, sich
in der Stadt niederzulassen (vorzugsweise in Athen). Um sich also das »Prestige«
eines Schwiegersohns in der Stadt leisten zu können, verkaufen die Eltern ihre
Felder, Weinberge oder Olivenhaine; das Land gerät in die Klauen der Baulöwen,
während der Erlös der Überbevölkerung in wuchernden städtischen Zentren Vorschub
leistet.

Im Bereich der Beziehen zwischen Mann und Frau komplizieren sich die Dinge
gleichfalls. Zu heiraten besitzt für griechische Frauen immer noch einen hohen
Stellenwert, da der Titel einer kyria (verheirateten Frau) ihr einen beneidenswerten
gesellschaftlichen Rang einräumt, insbesondere in bürgerlichen Kreisen. Nun
beginnen aber jene Männer, die gewillt sind, vor den Bürgermeister oder Popen
zu treten, rar zu werden. Die Fortentwicklung der Sitten im Sinne sexueller
Freizügigkeit, die Zunahme des Fremdenverkehrs (zwischen Mai und September spielen
tausende junger Griechen den Apoll für weibliche Feriengäste aus dem Ausland,
die auf der Suche nach romantischen Abenteuern unter der Sonne Hellas sind)
und die Nivellierung der »Vorteile« zwischen verheirateten und unverheirateten
Paaren sorgen für rückläufige Zahlen von Heiratswilligen. Hinzu kommt, dass die
Männer ihre Ansprüche in Sachen Mitgift immer weiter nach oben schrauben. Um
es kurz zu machen: Modernität und hohe finanzielle Ansprüche vereinfachen nicht
unbedingt die zwischenmenschlichen Beziehungen ...