Pantheon

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Schamanistischer Pantheon

Polytheismus bei den Nomaden

Tengri

Und über allem dehnte sich, unendlich weit, Tengri, der stets aufs neue beschworene »ewige Himmel«, die Gottheit, die den Urahn des Herrschers erzeugte. Tengri Ahura Mazda, der persische Gott, war auf dem Weg über Sogdier und Uighuren zu den Mongolen gelangt.

Auf die Kraft des »ewigen Himmels« haben sich alle Nachfolger Dschingis Khans berufen. Im November 1246 schrieb Großkhan Göjük an Papst Innozenz IV., der sich über die Angriffe der Mongolen auf die Ungarn und andere christliche Völker beschwert hatte:

»Diese deine Worte habe ich nicht verstanden. Den Befehl des Himmels haben beide, Dschingis Khan und der Großkhan Ögödei, kundtun lassen. Aber jene haben den Befehl des Himmels nicht beachtet. Jene, von denen du sprichst, haben sich hochmütig ablehnend verhalten und haben sogar unsere Gesandten getötet. So hat der ewige Himmel selbst in diesen Ländern die Menschen getötet und vernichtet. Wie könnte aber jemand, ohne den Befehl des Himmels, nur aus eigener Kraft töten oder auf Eroberung ausgehen?«

Der »ewige Himmel« über der Steppe war die Urgottheit allen Seins, aus der alle Herrscher als Vollstrecker der himmlischen Befehle ihre Kraft ableiteten. Bestimmend war aber auch die Furcht vor dem Zorn der Götter. Vor wichtigen Entscheidungen ging selbst Dschingis Khan die Götter in Demutshaltung um Rat und Zustimmung an. Als Pilger erstieg er den Gipfel des heiligen Berges Burchan Chaldur, legte zum Zeichen der Unterwerfung Gürtel und Mütze ab, brachte ein Opfer dar und erläuterte wie zur Entschuldigung, warum er zum Krieg entschlossen war.

Göttin des Herdfeuers

Neben Tengri wurden andere Götter angebetet, etwa der Gott des Feuers, der Sonne und des Mondes und die Göttin des Herdfeuers. Die Verehrung dieser Göttin ist auch heute noch verbreitet. Vor dem Mittagsmahl wird ihr von den Speisen geopfert, und Pferde werden in ihrem Namen gesegnet. Die schon aus vormongolischer Zeit belegte Göttin spielt seit dem 12./13. Jh. eine zentrale Rolle als Gewährerin von Fruchtbarkeit, Reichtum und Herdensegen.

Die Herdgöttin wird in ihrem feuerähnlichen Aussehen geschildert als »die mit dem Antlitz von roter Seide« oder »die mit den vielen heißen Zungen«. Bei Hochzeits- und Opferzeremonien in den letzten Tagen eines Jahres, bei der Bitte um Segen für die Kamele und bei der Vorbereitung des Fleisches für die Winterverpflegung rezitiert man ihr zu Ehren Feuerrhythmen. Ihrem besonderen Rang entsprechend erhält sie ausgewählte Opfergaben: Butter, Butterschmalz, das Brustbein eines weißen Schafes und die dünne Fettschicht aus Fettinnereien des geschlachteten Tieres.

Der Weisse Alte

In der Person des »Weißen Alten«, einer anderen Gottheit, sind mehrere Traditionen Ostasiens, vor allem des Buddhismus und des chinesischen Taoismus, zusammengeflossen. Die Mongolen verehren in diesem liebenswerten, weißhaarigen und weißbärtigen Alten mit seinen schalkhaft-bauernschlauen Zügen einen bedeutenden Fruchtbarkeitsgott. Laut Anrufungen sieht er sich selbst als Herr der Erde und der Gewässer.

Manche Äußerlichkeiten – weiße Kleidung, drachenbekrönter Stab – erinnern an Schamanenattribute. Am 2. und 16. Tag jeden Monats steigt er auf die Erde herab, um Übeltaten zu bestrafen und seine Opfergaben (bunte Seidenbänder und Speisen) entgegenzunehmen. Sein mythischer Wohnsitz ist ein hoher, mit fruchttragenden Bäumen bewachsener Paradiesberg. Weiterhin bekannt ist er als Hauptfigur in den populären Zwischenspielen des Tsam-Maskentanzes, in denen er als Spaßmacher und Tölpel auftritt, der über die Verfehlungen der Kirche kein Blatt vor den Mund nimmt.

Reitergottheiten

In vielen Jurten finden sich auch Statuetten der Ahnengeister (ongghut) und Genien (sülde), denen Rauchopfer (sang oder ubsang) dargebracht werden. Tibeter und Mongolen verehren Reitergottheiten, die auf zentralasiatische Traditionen aus vorbuddhistischer Zeit zurückgehen. Diese bewaffneten Heldengestalten zu Pferd (Sülde Tngzi oder Dayi Cin Tngzi) werden als Beschützer vor Unheil und Mehrer von Besitz verehrt.

Zu Dschingis Khans Zeit bezeichnete man mit »Sülde« eine Art Genius, der vornehmlich in den mit Pferdeschwänzen behängten Reiterstandarten seinen Sitz hatte. Sülde ist unvergänglich und wurde auch nach dem Tod des mit ihm verbundenen Helden weiterverehrt. Als personifiziertes Charisma seines Trägers ging er im Laufe der Zeit in die volksreligiöse Götterwelt ein. Den Sülde Tngzi werden auf Bergspitzen Rauch- und Teelitationsopfer dargebracht. Als Götterbilder erscheinen sie in Gestalt von kriegerischen Helden zu Pferde.

In Verbindung mit Sülde steht der ebenfalls berittene Kriegsgott Dayi cin tngzi, dem man früher auf Kriegszügen gefangengenommene Feinde opferte.

Geser Khan

Die herausragendste und populärste Reitergestalt ist Geser Khan, Beschützer des Herrschers, der Krieger und Herden, Garant von Jagdglück und Vernichter der Feinde und bösen Dämonen. Man nennt ihn auch den »Sohn des Himmels«, der in einem Palast über Bergen und Wolken residiert. Seine Gestalt vereint Züge buddhistischer Weltenhüter und iranischer sowie oströmischer Heldenfiguren (Geser ist die Übertragung des römischen Cäsar).

Um Geser Khan ranken sich vielfältige Legenden, die von fahrenden Sängern in Tibet und der Mongolei bis heute rezitiert werden. Die Gläubigen rufen den Helden und seine Taten in ihren Gebieten an. Die Geser-Khan-Erzählungen wurden erst im 16./17. Jh. von den Mongolen übernehmen; seine Verehrung ist also relativ jungen Datums.

Die Mandschu-Kaiser bezogen die hohe Popularität Geser Khans in ihre synkretistische Religionspolitik mit ein. Man setzte ihn dem chinesischen Kriegsgott Kuan-ti gleich, der auf einen historischen bezeugten General des 3. Jh. n. Chr. zurückführbar und ähnlich wie Geser Khan Held eines weit verbreiteten historischen Romans ist (»Die Geschichte der Drei Reiche«). In den zahlreichen Kuan-ti-Tempeln im chinesisch-mongolischen Grenzgebiet sahen die Mongolen eher die Verkörperung ihres Helden Geser als die eines chinesischen Generals.

Lokale Gottheiten

Der Glaube der Mongolen, der sich auch am Ahnenkult orientiert, trug wesentlich zu der toleranten Haltung gegenüber anderen Religionen bei. In den auf animistische Wurzeln zurückgehenden Vorstellungen gelten Erde und Wasser, die Berge, Höhen, Seen und Flüsse als Sitz überirdischer Kräfte. Sie werden als Erdmutter, Erdherr, Wasserherr usw. bezeichnet. Die lamaistische Missionierung gliederte diese Lokalgottheiten in das buddhistische Pantheon ein.

Besondere Bedeutung kommt seit alters der Verehrung von Anhöhen und Bergen zu, die häufig durch die Verbindung mit den an erhöhten Stellen beigesetzten Ahnen verstärkt wird. Sichtbare Zeichen sind die Steinhaufen (Owoos), die meist auf Anhöhen, an Pässen oder Wegkreuzungen errichtet und durch Vorbeikommende im Laufe der Jahrhunderte vergrößert wurden. Diese exponierten Stellen sind die Sitze der lokalen Schutzgottheiten, die für das Wohl der Menschen wirken. Dem Reisenden fällt, etwa nach einer erfolgreichen Paßüberquerung, im wahrsten Sinne des Wortes »ein Stein von der Seele«.

Neben den überall anzutreffenden Owoos wird auch ausgewählten Bergen oder Flüssen (Selenge, Onon, Cherlen) kultische Verehrung zuteil. Sie äußert sich in rituellen Umwandlungen, Streu- oder Rauchopfern. Die Verehrung dieser lokalen Gottheiten ist ein typisches Beispiel für die Vielschichtigkeit der Entwicklung religiöser Traditionen. Sie belegt das Beharren auf den ältesten religiösen Vorstellungen der Mongolen, die Berge und Höhen, Flüsse und Seen beleben und beherrschen.