Schwere Geburt

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Schwierigkeiten beim Bau

Klima und Witterung: Grund für Verzögerung

West- Und Mittelsibirien

Weitaus einfacher präsentierte sich das Terrain im Westen. Bereits 1878 war der Ural zwischen Perm und Jekaterinburg bewältigt worden. Achtzehn Jahre später folgten die Gleise von Jekaterinburg ins weiter südlich gelegene Tscheljabinsk, den ursprünglichen Ausgangsort der Transsib, der aber bald von der Schiene Perm – Jekaterinburg – Tjumen – Omsk ins Abseits gestellt wurde. Im Westen gingen die Arbeiten schnell voran, an Sommertagen beispielsweise um drei Kilometer. 1894 war Omsk am Irtysch, 1895 Nowonikolaewsk (heute Nowosibirsk) am Ob erreicht.

Doch auch in Mittelsibirien war man nicht untätig geblieben. 1893 wurde in Nowonikolaewsk der Bauabschnitt nach Irkutsk in Angriff genommen, der wiederum besondere Belastungen bereithielt. Die Trupps mußten sich durch dichte Taigawälder voranarbeiten, immer wieder Behelfsstraßen durch das sumpfige Gelände anlegen. 6000 Schienen, in England bestellt, wurden bewußt auf dem Wasserweg, über Polarmeer und Jenissej, angeliefert. Am 16. August 1898 schließlich war Irkutsk an der Angara erreicht. Hier begann erst die wahre Herausforderung an die Ingenieure.

Endstation Port Baikal

Die bisher beschriebenen Abschnitte, bis heute die einzige Ost-West-Verbindung in Sibirien, erzählen nur noch wenig von den Mühen ihrer Errichtung. Das ändert sich schlagartig hinter Irkutsk. Undurchdringliche Taiga und trotzige Bergketten hatten zunächst den für frühe Bahnprojekte üblichen Weg gewiesen: entlang des Wassers. Zudem bestand am Baikalsee schon ein kleiner Hafenort.

Doch welch Aufwand war allein nötig, um Port Baikal mit Irkutsk zu verbinden. Kaum ein Meter der Strecke bot sich dank natürlicher Gegebenheiten an. Überall mußte gesprengt, gegraben, aufgefüllt werden. Dazu waren auf 65 km Streckenlänge nicht weniger als 50 Brücken zu errichten. Und in Port Baikal war 1898 vorerst Sendeschluß.

Bahnfähren auf dem Baikal

Die geplante Südumfahrung des Sees scheiterte an den Bergen, die direkt aus dem Wasser steil emporragen. Blieb also als einzige Lösung der Weg über das Wasser, ermöglicht durch eines der größten »Puzzles« der Weltgeschichte. Im englischen Newcastle-upon-Tyne wurden zwei Eisbrecher-Fähren für den Baikalsee geplant, gebaut, auseinandergenommen und in mehreren Ladungen angeliefert. In Sibirien tüftelten anschließend englische und russische Techniker über dem Zusammenbau der Einzelteile. Im Herbst 1899 war das Puzzle fast betriebsbereit, doch erst sechs Monate später trafen die Schiffsbrenner ein. Nun konnte im April 1900 der reguläre Färbetrieb von Port Baikal nach Mysowsk (heute Babuschkin) am Ostufer beginnen.

Die riesige »Baikal« erinnerte zeitgenössische Reisende zunächst an eine überdimensionale, auf dem Wasser kreuzende Scheune. Sie hatte an Deck auf drei parallelen Gleisen die Hauptlast zu tragen: einen ganzen Expresszug oder 28 beladene Güterwagen. Auf Passagiere warteten ein Luxussalon, ein Buffet, Deckplätze für 650 drittklassige und Komfortkabinen für 150 erst- und zweitklassige Passagiere.

Die kleinere Schwester »Angara« stammte ebenfalls aus Newcastle und konnte ihrerseits 150 Passagiere sowie 400 Frachttonnen aufnehmen. Verstärkt sollte sie sich dem Aufbrechen des Eises widmen.

Als die »Angara« jedoch schon in der ersten Saison vor der massiven Eisschicht kapitulieren mußte, die den Baikal in jedem Winter bis weit in den Frühling überzieht, waren beide Fähren auf Monate im Eis gefangen. Flugs griffen die Einheimischen auf das traditionelle Verkehrsmittel im sibirischen Winter zurück. Sie wickelten die Reisenden in Schaffelle, setzten sie in große Körbe und zogen diese auf Pferdeschlitten über den See nach Port Baikal oder Mysowsk. In manchen Wintern sollen bis zu 2000 Schlitten auf dem See für einen Linienverkehr gesorgt haben. Pferdeschlitten bewältigten die Strecke in knapp fünf, Fähren in gut zwei Stunden.

Bei Ausbruch des Russisch-Japanischen Krieges im Winter 1904 wurde der Baikalsee zum Nadelöhr beim Transport von Mannschaften und Material an die Front. Hastig ließ das Armeekommando Schienen über den See verlegen, doch schon die Testlokomotive krachte mitsamt ihrem Führer durch die Eisdecke. Zeitgenossen notierten damals ein 22 km langes Loch im Eis. Unbeeindruckt von diesem Mißgeschick ließ die Armee neue Schienen legen und die Waggons künftig von Pferdegespannen ziehen.

Baikal-Südumfahrung

Wegen der Winter- und Kriegsprobleme setzte sich allmählich die Einsicht durch, dass auf die Landumfahrung des Baikalsees nicht verzichtet werden könne. Die Nordvariante wurde erst in den dreißiger Jahren mit der BAM, der berühmten Baikal-Amur-Magistrale, zum Thema. Die Bahnstrecke nach Port Baikal hatte bereits die Weichen für die Südumfahrung gestellt – doch die aus dem See emporragenden Berge, die 1899 die Ingenieure abgeschreckt hatten, waren immer noch da.

So begann 1904 der Streckenbau durch das schwierigste Terrain der Transsib. Oftmals konnten nur Boote Material und Geräte an die steilen Bergwände bringen, in denen sich Arbeitstrupps voransprengten und durchnagten. Auf einer Länge von 80 km entstanden innerhalb weniger Monate insgesamt 33 Tunnel und über 200 Brücken.

Durch die Mandschurei

Nachdem am östlichen Baikalufer Mysowsk (heute Babuschkin) zum Transsib-Fährhafen erkoren war, setzten 1895 die Bauarbeiten Richtung Osten ein. Die Strecke verlief über Werchne-Udinsk (heute Ulan-Ude) am Selenge-Fluß, Tschita im Jablonowijgebirge und erreichte Sretensk im Jahre 1900. Von hier ab mußten Reisende bis 1916 wieder aufs Boot umsteigen. Über die Flüsse Schilka und Amur ging´s nach Chabarowsk, wo die bereits 1897 fertiggestellte Bahnstrecke am Ussuri wartete.

Zwischen Sretensk und Chabarowsk wollte das staatliche Eisenbahnkomitee zunächst auf keinen Fall durch das Tal des Amur bauen lassen. Zu groß waren Bedenken wegen der ständigen Flutgefahr, nachdem 1896 eine Flutkatastrophe im Jablonowijgebirge innerhalb von 24 Stunden Hunderte von Dörfern zerstört, Tausende von Rindern ertränkt und die Transsib-Bauarbeiten vollständig vernichtet hatte.

Also wurden Verhandlungen mit der untergehenden Kaiserdynastie in Peking aufgenommen. Offiziell ging es dem Zarenreich um eine Bahnabkürzung nach Wladiwostok durch die Mandschurei. Inoffiziell lockte natürlich die Aussicht auf besseren Zugang zum Japanischen Meer, zu eisfreien Häfen – und auf Einfluß in der Mandschurei und in Korea. Tatsächlich ließen sich die Kaiser einen schmalen Streifen mandschurischen Landes, breit genug für die »Ostchina-Linie«, als Leihgabe für die nächsten 80 Jahre abschwatzen.

Die Bauarbeiten begannen 1897; zwei Jahre später war Ussurisk unmittelbar nördlich von Wladiwostok, vier Jahre später Tschita mit der Transmandschurischen Eisenbahn verbunden. Eine rechte Freude hatte Moskau mit diesem Abschnitt aber nie. Spätestens im Krieg mit Japan 1904/05 trat seine Verletzbarkeit offen zutage. Wer kann schon ein 1500 km langes Handtuch verteidigen, wenn er darauf stehen muß!

Die Amur-Trasse

Noch einmal mußte das Eisenbahnkomitee umdenken. Also doch die Trasse am Amur, dessen weiter Bogen zugleich die Grenze zur Mandschurei bildet? Nach den Kriegserfahrungen zog man lieber außerhalb der Schußlinie, weiter im Landesinneren, seine Bahn. So begann der Bau des letzten Abschnitts 1908 in Nertschinsk. Beim Bogenschlag über Skoworodino nach Chabarowsk stellten sich den Arbeitern wieder dichte Taigawälder, dichtere Insektenschwärme und steinharte Permafrostböden entgegen. Der Weltkrieg sollte für weitere Verzögerungen und Materialknappheit, so dass die Amur-Strecke erst 1916 eröffnet werden konnte.

Ein Jahr vor dem Ende der Zarendynastie hatte ihr größtes Bauprojekt seine volle Länge erreicht.