Religiöse Feste

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Jährlich wiederkehrende Feste

Ach, wie ist das Leben doch eintönig! Wem dieser Stoßseufzer herausrutscht,
der sollte flugs das Land jenseits der Pyrenäen besuchen, um sich vom Gegenteil
zu überzeugen. In Spanien schlägt der Puls der Zeit nämlich uneinheitlich: sicherlich
gleicht die Abfolge der Stunden unserer eigenen mit ihrem Anteil an Arbeit,
Sorgen, Berechnungen und Sparsamkeit, aber lassen wir uns nicht von Äußerlichkeiten
täuschen. Denn unter der alltäglichen Routine verbirgt sich das Warten auf die
Feste. Bis der ersehnte Tag endlich heraufzieht, muß erst dieses langsame Keimen
des Wunsches vorausgehen, eine Mischung aus wirtschaftlicher Voraussicht, verstohlenen
Anspielungen und heimlichen Vorbereitungen in kleinen Gruppen. Woher käme ohne
diese geheime »Inkubationszeit« jene Überfülle an Energie, die dann plötzlich
explodiert? Das Fest bzw. das wahre Leben, das man schnell wie einen Wachtraum
miterleben sollte ... Denn dann bricht alles los, was die täglichen Zwänge zurückgedrängt
hatten: Freude, Verlangen, riskante Heldentaten, unter Umständen auch Gewalt.
Während dieser kurzen Unterbrechung der Zeit, die das Fest bedeutet, kommt ein
Höchstmaß an Freiheit jeder Art zum Durchbruch.

Religiöse Feste: Inbrunst über den Glauben hinaus

Es gibt Feste aller Art, von denen unzählige einen Besuch verdienen, unter
der Bedingung, dass man vorausschauend denkt: der Besucher- und Touristenansturm
ist derart hoch, dass die Hotels Gäste ablehnen müssen und die Privatquartiere
gestürmt werden. Und dann bleibt auch die Qual der Wahl angesichts der Fülle
von Möglichkeiten. Zumal die religiösen Feste, und da besonders die während
der Karwoche, locken schon seit geraumer Zeit die meisten Reisenden aus dem
Ausland an. Was könnte man den Kommentaren und Ergüssen noch hinzufügen, zu
denen die Karwoche berühmte Schriftsteller inspirierte? Wenn das Geheimnis der
Passion, in Sevilla inmitten der Massen nachempfunden, so einen Schauer auslöst,
wenn dieses Fest den Zuschauer so stark beeindruckt, dann liegt das daran, dass
es jedes Jahr eine unnachahmliche Spontaneität auslöst, die sich in den gesungenen
saetas beim Vorüberziehen einer Madonna erhebt. Dabei finden die jahrhundertealten
Gepflogenheiten ein Fortsetzung, die noch nichts von ihrer Lebendigkeit eingebüßt
haben. Noch heute gibt es in Sevilla nicht weniger als zweiundfünfzig Bruderschaften,
deren Mitglieder sich in jeder Generation erneuern. Jede hat ihren eigenen Raum,
ihr Kostüm, verfolgt ihre besonderen Aktivitäten und ihr eigenes Ritual. Ferner
schaltet sich jede Bruderschaft an einem ganz bestimmten Ort zu einem ganz bestimmten
Zeitpunkt während der Karwoche ein. Die meisten finden sich um wenigstens einen
paso herum ein, worunter man eine Statue Christi oder der Jungfrau Maria versteht,
oder aber sogar eine ganze Skulpturengruppe, die an eine der Stationen des Leidenswegs
erinnert, den man in Sevilla »paso del misterio« nennt. In den Kirchen Sevillas
sind hunderte dieser pasos erhalten geblieben - einige sind wahre Kunstwerke
- die zur gegebenen Stunde aus ihrem Heiligenschrein hervorgeholt werden, unter
den Augen der ungeduldigen Menge. Wie sollte man unter dem unwirklichen Schaukeln
bei ihrem Gang durch die Straßen die körperliche Anstrengung ihrer Träger, der
costaleros, erraten, die munter Tragbahren hochstemmen, welche ein Gewicht von
zwei bis drei Tonnen aushalten müssen? Noch augenfälliger ist mit Sicherheit
die Anwesenheit Tausender Nazarenos (Nazarener), von denen die Tradition der
Büßergemeinschaften aufrechterhalten wird, in ihrer nächtlichen von Kerzen beleuchteten
Prozession. Überall ragen die Spitzen ihrer geschlossenen Kapuzen in die Höhe,
wie eine stumme, aus der Vergangenheit gekommene Armee von Gespenstern. Derartige
Bilder sind so beeindruckend, dass dieses recht persönliche Gefühl, das dabei
empfunden wird, die Gefahr in sich birgt, vergessen zu lassen, welche wiederbelebten
Traditionen, welches Gefüge menschlicher Beziehungen sie Jahr für Jahr zum Leben
erwecken: wird nicht behauptet, dass die sozialistischen Abgeordneten, die das
Rathaus von Sevilla leiten, selbst die Kapuze aufsetzen?

Aber Sevilla besitzt keineswegs das Monopol der Festlichkeiten in der Karwoche.
Alle Regionen Spaniens, bis hin zu den Kanaren, halten ihre Lebendigkeit aufrecht,
wie ein Zeichen der Identität, die sich über alle Unterschiede hinwegsetzt.
Dennoch betont jedes Fest seine Eigenart. Die Prozessionen von Kastilien - in
Valladolid, in Zamora, in Cuenca ... - bestechen durch die Herrlichkeit mancher
pasos, oft Werke bedeutender Bildhauer, und durch ihren Ernst, der einen Gegensatz
zu der aufbrausenden andalusischen Art bildet. In Niederaragonien wird die Passion
vom unerbittlichen Rhythmus der Trommeln skandiert, die noch für lange Zeit
in unseren Köpfen nachhallen: Calanda, das Heimatdorf von Buñuel, sticht dabei
die anderen aus durch die dumpfe Roheit des Schlages, wobei die Spieler am Ende
immmer mit blutigen Händen aus der Sache hervorgehen.

Ein weiteres religiöses Fest, durch pittoreske lokale Traditionen bereichert,
erfreut sich in Spanien nach wie vor hoher Beliebtheit. Der Corpus (unser Fronleichnam)
feiert die wirkliche Gegenwart Christi im heiligen Sakrament, am sechzigsten
Tag nach Ostern, der immer auf einen Donnerstag fällt. Die Prozession im Gefolge
der in ihrer Monstranz oder in ihrem Behälter aufbewahrten Hostie verläuft in
Schwaden von Weihrauch gehüllt durch die Straßen, an den kurzlebigen Wandbehängen
aus echten Blumen vorbei, mit denen Balkone und Fenster geschmückt werden. In
dieses religiöse Ritual haben sich aber volkstümliche, oft sehr farbenfrohe
Festlichkeiten eingeschlichen, die aufzuzählen hier wegen ihrer hohen Anzahl
und ihrer Verschiedenartigkeit unmöglich wäre. Wenn die autos sacramentales,
jene theologischen Dramen, in denen sich Calderón auszeichnete, auch kaum noch
auf den Vorplätzen der Kirchen aufgeführt werden, so überlebt doch hier und
da das Ritual der heiligen Tänze, wie in Sevilla, wo sechs junge Männer, die
seises, ihre Bewegungen vor dem heiligen Sakrament ausführen. In Barcelona gibt
es noch einen seltsamen »Eiertanz« - den ou com balla - und ganz Katalonien
hegt eine Vorliebe für die Aufmärsche der gegants, deren großer Kopf aus Pappmaché
Männer bedeckt, von denen der eine rittlings auf dem anderen sitzt, versteckt
in den Falten des Gewandes. An anderen Orten schlägt das Heilige Sakrament grimassenziehende Teufel in die Flucht oder aber schreckliche Ungeheuer, die aus ihrem Mund Feuer speien. Wie man sieht, geht die Lebendigkeit der religiösen Feiern Hand in Hand
mit der Beständigkeit von Mythen und Traditionen, deren Ursprung weit zurückliegt,
zum Teil sogar aus heidnischen Zeiten stammt.