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Montmartre von hinten

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Montmartre von hinten

Das Künstlerviertel

Die meisten Leute gehen den Montmartre, von der Metrostation Anvers aus an, quälen sich durch die immer überfüllte rue Steinkerque mit den Stoffläden, besteigen die Zahnradbahn und sind flugs oben. Dort gibt es dann Sacré Coeur und die Scherenschneider und Portraitisten der Place du Tertre zu bestaunen, Bohème und Panoramablick einzufangen und zu Fuß die gewundenen Wege zur Station Anvers hinunterzuschlendern.

Wir wollen uns etwas mehr Zeit nehmen und „die Sache von hinten aufzäumen“. An der Metrostation Place de Clichy beginnt der Ausflug. Ein kurzer Blick auf die Statue des Marschall Moncey, er hat 1814 siegreich die Kosaken abgewehrt. Wer dem Berg entgegenfiebert schreitet forsch in der rue Caulaincourt aus, bis zur Metallbrücke, dort trifft er mit denen zusammen, die einen kleinen Schlenker durch die Passage de Clichy eingeschoben haben. Er lohnt, als Beweis für die unerwarteten Gegensätze, die Paris sich erlaubt: im ersten Teil alt Paris mit Klavierbauer, Mülltonnen und Katzen in der Sonne, im zweiten Teil strahlend weiße gradlinige Neubauten, um die Ecke Hundehaufen und halbtote Tauben. Wo die Reihe von Großhotels die linke Seite der rue Caulaincourt säumt, war Großes schon früher gefragt: 1931 das größte Kino Europas, bot das Gaumont Palace 5000 Sitzplätze. Die Filme flimmerten über eine 670 m2 große Leinwand! Vor dem, 1888 als erste Metallbrücke der Stadt über den Nordfriedhof, genannt Cimetière de Montmartre, geschlagenen Übergang führt rechts eine Treppe nach unten, dort ist der einzige Eingang zum Gottesacker. Ein Abstecher zur letzten Ruhestätte vieler Berühmtheiten aus Literatur und Film lohnt auf alle Fälle (s. "Freizeit").

Wir überqueren die Brücke, schlendern an der Friedhofsmauer entlang bis zur ansteigenden rue Tourlaque. Bei Nr. 7 war einmal die Höhenangabe 86, 281 m über dem Meeresspiegel zu lesen, irgendwie ist sie wohl übertüncht worden. Blickt man im Lauf des Aufstiegs zur rue Lepic nach hinten, ahnt man in der Ferne die Hügelkette von Sannois im Val-d`Oise. In der rue Lepic gedenken wir der Brüder Van Gogh, ihr erstes Quartier in der Künstlermetropole war in Nr. 56. Am Hause Nr. 64 bewundern wir die vier, neben der sonstigen Ausstattung ungewöhnlichen Statuen in den Nischen in jedem Stockwerk. Die heute so friedliche Straße hat in den 80er Jahren des 20.Jh. schaurige Berühmtheit erlangt: ein abartiger Frauenkiller mordete hier „in Serie“. Seit seiner Festnahme atmet man wieder freier und kann sich unbeirrt auf den größten Tag des Jahres mit dem Oldtimer- Rennen freuen. Korrekter sollte man vom Oldtimer- Schleichen sprechen, denn Sieger ist, wer die Butte (den Gipfel) zuletzt erreicht ohne den Motor abzuwürgen!

In der Kurve verlassen wir die rue Lepic und muten uns die ziemlich verdreckten Stufen Richtung av. Junot zu. In den Verschnaufpausen genießen wir den Blick zum schemenhaft in der Ferne auftauchenden Wald von Meudon statt den Leuten neugierig in die Fenster zu gucken. Furchtlos passieren wir den Rocher de la Sorcière (den Hexenstein), Bäume umgeben uns, 1741 drehte sich hier die Neue Mühle. In Nr. 13 der nun erreichten rue Junot lebte der Zeichner Fancisque Poulbot und der idyllische, leider private Hameau des Artistes hat seinen Eingang dort. Entlang der av. Junot, Hauptarterie unterhalb der Bergspitze, klapperten die vielbesungenen und gemalten Windmühlen. 13 an der Zahl waren es, die älteste ist im Jahr 1591 urkundlich erwähnt. Wir wenden uns nach links, ehe wir rechts in die rue Simon Dereuer einbiegen, werfen wir einen sehnsüchtigen Blick in die gepflegte Villa Léandre. So möchte man wohnen: kleine, elegante, weiße Häuser, davor hier eine Glyzinie, dort eine Kletterrose, da ein Zeder und da drüben eine Rebe, Idylle pur. (Weiter rue Derreur entlang). Bevor wir die wenigen Stufen der Allée des Brouillards erklimmen (schöner Durchblick auf Sacré Coeur), ruhen wir ein wenig an der beschaulichen Place des Quatre Frères Casadesus aus. Im Sommer stellen die Anwohner am Abend ihre Stühle nach draußen, die Frauen tratschen, häkeln oder sticken, während die Männer Karten spielen. Die Szenen kennt man besser aus Dörfern im Süden.

Das breite Herrenhaus rechterhand ist eine der beiden Folies (Lustschlößchen) der Butte, das Château des Brouillards, den Namen gab eine hier gelegene Quelle, die offenbar häufig Nebel erzeugte. Das Nebelschloß lag inmitten ausgedehnter Ländereien. 1850 wurde der Besitz zerschlagen, die Wirtschaftsgebäude verfielen, dem Wildwuchs wurde freier Lauf gelassen: das Gebiet wurde unter dem Namen Maquis de Montmartre berüchtigt. Ein ziemlich marginales Völkchen, darunter viele mittellose Künstler, machte es sich bequem. Das ging bis 1912 gut, dann wurde die av. Junot angelegt, damit der wachsende Verkehr auf der steilen Butte besser fließen konnte. Ob die Abwanderung der Künstler in Richtung Montparnasse damit zu tun hat, ist nicht eindeutig nachzuweisen.

An der Place Dalida hängen wir eine kleine Schleife an, biegen nach rechts in die rue Girardon bis zum romantischen Square Suzanne-Buisson. Hier soll der wackere Saint-Denis (seine Statue ziert den kleinen Park) seinen eigenen Kopf, den er ja schon von der Spitze der Butte unter dem Arm hergetragen hatte, für den noch bevorstehenden 6 km langen Marsch gen Norden im Brunnen säuberlich gewaschen haben.

Ein Stück weiter wenden wir uns kurz nach links in die rue Norvins, wir sind jetzt auf der ehemaligen Haupt-Dorfstraße, wo mit viel Phantasie noch das geschäftiges Klappern der Mühlen zu hören ist. Wir bestaunen die halbe Statue, die uns aus der Wand entgegenkommt: Sie wurde 1989 von Jean Marais geschaffen und stellt den von Marcel Aymé (ihm ist der Platz gewidmet) erdachten „Mauerschlüpfer“ „Passe-Murail“ dar. Wer mag, wandert noch ein Stück weiter bis zur Nr. 22 bis, rue Norvins. In dem großen hellen Haus wirkte der gute Dr. Blanche zu seinem und dem Wohl der vielen depressiven Künstler, die er mit unendlicher Güte heilte. Zurück zur Nr. 2 Impasse Girardon, und zum Belvedere im kleinen Park mit reizvollen Blick auf die alten Dächer rund um das Château des Brouillards.

Die rue Girardon runter, zweigen wir nach rechts in die rue de l´Abreuvoir(Tränke), wo wir vor der Nr. 4 des Kommandanten Henry Lachouque, Historiker Napoleons und der Grande Armée, gedenken und uns bei Nr. 2 an La Petite Maison Rose, erfreuen. Sie machte Maurice Utrillo berühmt und umgekehrt. Nach links steigen wir die steile rue des Saulnes zum Weinberg hinunter, immer mit einem weiten Blick über das Panorama der schönsten Stadt der Welt und dem kurzen Blick über efeubewachsene Gemäuer, verwunschenen Gärten und ansehnliche Häuser.

Die Stadt Paris konnte 1933 das Terrain des Weinbergs erwerben und ließ 2000 Reben aus allen französischen Weinanbaugebieten darauf pflanzen. Man kümmerte sich wenig um die Ausrichtung nach Norden, sondern folgte einer Tradition aus dem Mittelalter und stellte, der Perfektion halber, auch noch Weinbergspfirsiche zwischen die Reben.

Wenn der Clos du Montmartre geerntet wird, gibt es jedes Jahr ein zweitägiges Volksfest (s. "Tipps"). Immer am Weinberg entlang biegen wir in die rue Saint-Vincent und grüßen auf der gegenüberliegenden Straßenseite das berühmt/berüchtigte Gasthaus Lapin Agile. Bis 1914 der Treffpunkt der Bohème Montmartroise wird es seit 1972 von einem Nachfahren früherer Besitzer mit großen Traditionsbewußtsein fortgeführt. Nach dem Weinberg passieren wir den bemerkenswerten Jardin sauvage Saint-Vincent, ein wohlbehütetes Biotop mitten in der Millionenstadt (s. "Freizeit").

Rechts treffen wir auf die steile rue du Mont Cenis, überwinden 72 Stufen (weiter Blick zurück), setzen uns zum Verschnaufen auf die Bank beim hoch aufgeschossenen Château d`Eau (Wasserspeicher) und machen einen kleinen geistigen Spaziergang durch die Geschichte des Montmartre: Bauern, Winzer, Müller und Steinbruchsarbeiter bewohnten bis zur Revolution ein bescheidenes Dorf auf dem Hügel. Sie lebten im Schatten der mächtigen Benediktinerinnenabtei, deren Besitz sich bis hinab zu den Kirchen Trinité und Notre Dame de Lorette erstreckte.

Im ausgehenden 18. Jahrhundert entdeckten „frühe Grüne“ (Menschen die das Landleben schätzten) und Liebhaber des weiten Blicks den Hügel. Die beiden Folies (Lustschlößchen) Sandrin und Château des Brouillards entstanden. Da der Berg vor der Revolution unabhängig war, erklärten Künstler-Phantasten nach der Eingemeindung das Terrain zur Commune libre de Montmartre. Man hielt sich für die Folklore auch den bärtigen, altmodisch gekleideten Flurschützen (Garde-Champêtre) Anatol. Beim Erntefest und anderen großen Events hatte er seinen Auftritt zur Freude der Kinder und Touristen. Schräg gegenüber unserem Sitzplatz gelangt man zum romantisch gelegenen Musée Montmartre (s. "Freizeit").

Wir nähern uns bedenklich den immer dichter werdenden Touristenströmen auf der Place du Tertre und biegen deshalb schnell in die uralte rue Saint Rustique (schon im Mittelalter erwähnt!) ab. Hier liegt der höchste Punkt des alten Dorfs mit 129, 37m über dem Meeresspiegel. Wenig tiefer treffen wir bei Nr. 22 rue Norvins auf die Folie Sandrin aus dem Jahr 1774, gegenüber, im 8-eckigen Tempelchen hat die Commanderie du Clos Montmartre (Weinbruderschaft) ihren Sitz. Über die malerische rue Poulbot (Espace Dali, s. "Freizeit") erreichen wir den kleinsten Platz von Paris, Place du Calvaire dessen Haus Nr. 1 das höchstgelegene der Stadt sein soll. Der Maler und Lithograph Maurice Nermont starb dort. Wir verweilen und genießen der Blick auf Pantheon, Centre Pompidou, Saint-Eustache, Tour Montparnasse, Invalidendom – ganz Paris liegt uns zu Füßen. Nun stehen wir doch noch auf der unvermeidlichen Place du Tertre. Bereits im 14. Jahrhundert von niedrigen Häuschen umgeben, 1635 mit Bäumen bepflanzt, hatten die Benediktinerinnen hier Galgen und Halsring installiert – ziemlich christlich!

Vor dem Abstieg in die Stadt wollen wir unbedingt noch einen Blick in St. Pierre-de-Montmartre mit seinem Kirchenschiff aus dem 12. Jahrhundert werfen. Neben St.-Germain-des-Prés und St. Julien-le-Pauvre die älteste Kirche der Stadt. Auf dem Weg nach unten durch die rue St. Eleuthère kommen wir an einer der wenigen, noch erhaltenen Fontaines Wallace vorbei.