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Belleville, Ménilmontant

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Belleville und Ménilmontant

Erinnerungen an Edith Piaf, Charles Trenet und Maurice Chevalier

Die beiden Namen werden in Frankreich sofort mit ihren berühmten Kindern Edith Piaf, Charles Trenet und Maurice Chevalier assoziiert. Sie wuchsen in der vorstädtischen, provinziellen Umgebung auf, waren Kinder der Straße, die zu weltberühmten Stars, Botschaftern Frankreichs, wurden. Versuchen wir, ihr Ambiente aufzuspüren. Getreide und ein méchant petit vin (ein ziemlich mieser kleiner Wein) wuchsen im schwer zugänglichen Belleville auf dem Hügel. Der Weiler Menilmontant gleich daneben wurde im 13. Jh. wenig schmeichelhaft Mesnolium mali temporis (das Schlechtwettereck Mesnolium) genannt. Wegen der erhöhten Lage und des schönen Blicks wurden Mitte des 19. Jh. die beiden Dörfer plötzlich bei der Pariser Schickeria „en vogue“. Wochenendhäuser, Ausflugslokale, einige Folies und sogar zwei Schlösser wurden gebaut. 1860 als Teil des 11. 19. und 20. Arr. eingemeindet, erlebt der inzwischen abgeflachte Hügel im 20. Jh. mehrere Einwanderungswellen: Deutsche, osteuropäische Juden, Russen, Armenier, Griechen, deutsche und spanische Juden, und schließlich Asiaten.

Bei der Metrostation Pyrénées wollen wir starten und folgen zunächst der av. Simon Bolivar zum gleichnamigen Platz. Wie ein überdimensionales Hufeisen liegt er, von fünf großen Kastanien überschattet am steilen Hang. Wir wenden uns zurück und steigen die Treppe zur rue de l´Equere hinunter, um dort links in die rue Rébeval einzubiegen. Das ist Belleville, malerisch, ein wenis heruntergekommen und verträumt, mit Werkstätten und bescheidenen Konfektionsbetrieben. Daneben erstrahlt wie geleckt das ehemalige Fabrikgebäude einer Modelleisenbahnfirma, heute Schule für Architekten. Die Ecke ist im Umbruch, ein angenehmes Ergebnis der Sanierungsarbeiten ist der zwischen 1988 und 96 angelegte Parc de Belleville. Über die rue Piat, auf dem Bürgersteig vor der Nr. 72 soll Edith Piaf geboren sein, auf der Fassade der Nr. 65 hat ein türkischer Restaurantchef ein witzig-verwirrendes Trompe l`½il- Gemälde aufmalen lassen; erreichen wir den höchsten Punkt im Park, den Belvedere. Paris liegt uns in westlicher und südwestlicher Richtung zu Füßen, eine Springbrunnenkaskade plätschert abwärts. In der Ferne machen wir die Kuppel des Pantheon, Notre Dame, die Tour Montparnasse, Saint-Sulpice aus. Den Park wollen wir aussparen, s. dazu "Freizeit". Wir werfen nur noch einen Blick auf den de Luxe Weinberg mit wohl gestutzten Rasenflächen zwischen den Zeilen. Er soll an den méchant petit vin aus den Ausflugslokalen und Trinkbuden von einst erinnern.

Dann verlassen wir die grüne Oase in Richtung rue de Transvaal. Sie hat in der Nr. 5 ein interessantes Haus, in der 7 eine gut gewachsene Tamariske und schließlich in der 13 eine auffällige Außentreppe zu bieten. Bei Nr. 16 geht die Villa Castel ab, eine der letzten Sackgassen ihrer Art, mit liebenswerten kleinen Häuschen. Sie diente übrigens dem Film Jules et Jim als Szenario. Ähnlich niedliche Häuschen säumen auch die schmale Passage Plantin. Es geht immer weiter bergab, über Treppen und am bewaldeten Hang entlang zur rue Henri Chevreau. Über die Treppe im Haus 94/96, Passage de Notre-Dame-de-la-Croix erreichen wir die für die Gegend unerwartet imposante Kirche Notre-Dame-de-la-Croix. Mehr als 50 Stufen führen zum Portal hinauf. Der spitze Turm ist von weither sichtbar. Über die ansprechend als Fußgängerzone mit Metallsteg über die Eisenbahn gestaltete rue de la Mare nähern wir uns dem ersten der drei kuriosen Regards. Der langsame Aufstieg dorthin (Ecke rue de Savies/rue des Cascades) führt uns vorbei an der rue Henri Chevreau von der ein besonders malerisches Sackgäßchen abzweigt, mitten durch Alt-Ménilmontant mit hohen Niveauunterschieden, Treppen, häßlichen Neubauten und rührenden kleinen alten Häuschen.

Der ganz oben gelegene Regard Saint-Martin ist das erste von drei Wasser-Kontroll-Häuschen und stammt aus dem Jahr 1722. Den Regard de la Roquette und schließlich den Regard des Messiers passieren wir auf der rue des Cascades (treffender Name). Von den drei rührend anmutenden Natursteinhäuschen mit den glatten Steindächern aus wurden die drei Aquädukte kontrolliert, die die Klöster und öffentlichen Brunnen auf dem rechten Seineufer fünf Jahrhundert lang mit Trinkwasser versorgten.

Nach einem kurzen Blick in die baumbestandene rue de Ménilmontant (wir treffen sie später wieder), von der aus man einen wunderbaren Blick über die Stadt hat, biegen wir in die rue de l`Eremitage. Das schmale, neugotische Haus Nr. 19 stammt aus den 1920er Jahren und überrascht in dieser Gegend. Es steht in krassem Gegensatz zum alten Pflaster des Impasse Louis Robert. Die Schattenspender heißen übrigens Götterbäume. Weiter geht es in die wieder so typische Villa de l`Ermitage, mit bescheidenen Häuschen hinter wuchernden Vorgärten. Gegen Ende wird sie immer schmaler, aber keine Angst, wir schlüpfen hindurch bis zur zweitlängsten Straße von Paris, der rue des Pyrénées. Diese überqueren wir, laufen die rue Guigner entlang und ruhen uns schließlich ein wenig auf einer der beiden Bänke am Miniplätzchen am linken Ende der rue Rigoles aus. Nach einem kleinen Bogen nach links zwängen wir uns durch die nur 60 cm breite, schmalste Straße von Paris: die Passage de la Duée. An manchen Stellen hat man Angst, die Mauern könnten über einen zusammenschlagen. Am Ende halten wir uns rechts, laufen ein Stück durch den neuen Teil des Square de Ménilmontant, nicht die schlechteste Art, marode Bausubstanz zu sanieren, frisches Grüne tut dem müden Städterauge und auch seiner Seele gut (auf den originellen Brunnen achten), um schließlich die rue de Ménilmontant wieder zu erreichen.
Auf der Kreuzung mit der rue des Pyrénées wundern wir uns über eine im Stil von Paladio (berühmter Architekt aus Venetien) 1773 gebaute Folie. Die vier Säulen, die den Eingangsportikus tragen, sind gut vom Bürgersteig aus sichtbar. Die Lustschlößchen (Folie) genannte Villa ist die letzte von einer ganzen Reihe ihrer Art in Belleville. Ganz in der Nähe fällt auch das ehemalige Waisenhaus mit seinem angedeuteten Zwiebeltürmchen ins Auge. Wir biegen links in die rue du Retrait ein, bewundern die schön gestaltete Tür der Nr. 16 und werfen einen Blick in die malerische rue Laurence Savat. Dann geht´s am Patronat Saint-Pierre vorbei. Seit 1932 wird in der Fastenzeit kurz vor Ostern ein Passionsspiel organisiert. Darsteller sind die Bewohner des Viertels, erstaunlich in einer Millionenstadt im Jahr 2004! Nach rechts geht es in die rue Annam, wegen der schönen Aussicht begehrt, beherbergt sie bei den Nr. 5-7 eine bedeutende Arbeitersiedlung aus dem Jahr 1913. Ein künstlerisch gestaltetes blau-goldenes Mosaik im original gekachelten Eingang weist darauf hin, dass „die Stiftung (von Madame Jules Lebaudy) den Zweck der Schaffung preiswerten Wohnraums mit hohem hygienischem Anspruch verfolgt“. Bevor wir bei der Station Gambetta die Metro besteigen, genießen wir von der obersten Stufe zur rue Bidassoa hin, einen verschwommenen Blick auf Sacré Coeur.