Heilige Orte

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Ist Gott Spanier?

Spanien hat sich von Nord nach Süd in der Konfrontation von Kreuz und Halbmond
herausgebildet. Das ist eine für andere katholische Nationen unbekannte Erfahrung,
und zwar sowohl für Italien, wo die Anwesenheit des Papsttums seit dem Untergang
des römischen Reichs einen wesentlichen Einfluß ausgeübt hat, als auch für Frankreich,
das sich zumindest seit Chlodwig als älteste Tochter der Kirche fühlt. Darüberhinaus
war in Spanien Glauben auch immer gleichbedeutend mit Kampf: gegen die Ungläubigen,
von den mohammedanischen bis zu den roten; gegen die Abwendung von Gott, die
nur überwunden werden kann, indem sein eingeborener Sohns fürs gläubige Volk
abgebildet wird; gegen die Niedrigkeit des menschlichen Lebens, des allzu menschlichen
Lebens, welches das mütterliche Mitgefühl Marias erregt, dem übermenschlichen
Beispiel unter den Heiligen.

Heilige Orte

In diesem Kampf um die Ausbreitung des Christentums hat man bereits recht früh
das Bedürfnis verspürt, sich auf feste Stützpunkte verlassen zu können, auf
»heilige Orte«, die genügend Ausstrahlungskraft besitzen, um ihr Einzugsgebiet
heilig werden zu lassen. Hierin liegt die Berufung der ersten Klöster, Zufluchtstätten
des Glaubens und der göttlichen Weisheit, entstanden in den alten Bastionen
der Christenheit im Norden der Pyrenäenhalbinsel. Von Katalonien über Aragonien,
Navarra und Alt-Kastilien bis Galicien sind diese Klosteranlagen ebenso bewegend
wie die Schöpfungen der romanischen Kunst: vom Aussichtsturm San Pedro de Roda
(Sant Pere de Roda auf Katalanisch) am Meer bis hin zum primitiven Schiff von
San Martín de Mondoñedo, mit einem Holzgebälk bedeckt - wieviele Stationen erwarten
doch den Reisenden in Gestalt der Kirchen von San Juan de la Peña und San Millán
de la Cogolla, auf heiligen antiken Grotten erbaut, oder vor dem Portal von
Ripoll. Ferner im verzierten Kreuzgang von Santo Domingo de Silos, angesichts
des geflügelten Einfalls der Engel mitten unter den Hirten, was die Fresken
von San Isidoro de León flüchtig darstellen, sowie vor der romanischen Apsis
von Ribas de Sil inmitten eines in Granit eingeschnittenen Tals. Die Quellen
des Heiligen sind im Spanien der Klöster nicht versiegt.

Es folgte die Zeit der Kathedralen, die Epoche der triumphierenden Kirche,
die von der Gesamtheit des wiedereroberten Gebiets Besitz ergreift; jene von
Granada ist die zuletzt erbaute und wurde schon am Tag nach dem Sturz des letzten
maurischen Reiches begonnen. Da sie Bischofssitz sind, werden sie vor allem
das Lehensgut des Kapitels, dieser Gemeinschaft von Geistlichen, deren Aufgabe
es war, den Gottesdiensten beizuwohnen sowie vor allem jeden Tag die feierlichen
Messen zur Ehre Gottes zu singen. Während in anderen Ländern, wie z.B. in Frankreich,
die Domkapitel nur noch theoretisch fortbestehen, genügt es in Spanien, im Laufe
des Vormittags einer Kathedrale seinen Besuch abzustatten, um zu hören, wie
die Gewölbe von ihren Psalmengesängen widerhallen. Danach wird jeder davon überzeugt
sein, dass die Kapitel auf der Iberischen Halbinsel ihre Autorität erhalten konnten.
Um die Macht, die sie sich schließlich aneigneten, richtig zu erfassen, gibt
es keine geeigneteren Orte als Sevilla - wo das Kapitel die »größte Kathedrale
der Christenheit« errichten wollte, und zwar an der Stelle der großen Moschee,
von der glücklicherweise die legendäre Giralda, das prächtige Almohadenminarett,
erhalten ist blieb - und vor allen Dingen Córdoba: um für ein, seinem Ehrgeiz
entsprechendes, Kirchenschiff Raum zu schaffen, schreckte das hochmütige Kapitel
nicht davor zurück, gegen den Widerstand des ayuntamiento dreiundsechzig Säulen
der Kalifenmoschee niederzureißen, die daraufhin unwiderruflich verunstaltet
war. Die späte Entrüstung Karls V. vermochte diesen Vandalismus nicht mehr verhindern.
Dieser Größenwahn breitet sich in den meisten Kathedralen Spaniens aus: meistens
wird fast der ganze Raum, den das Schiff bietet, von einer aufwendigen Kirche
innerhalb der Kirche beansprucht. Sie zieht sich vom Hauptaltar - la capilla
mayor - bis zum geschlossenen Chor hin, der mit dem sorgfältig bearbeiteten
Chorgestühl verziert ist, jenem ausschließlich dem Kapitel vorbehaltenen Platz.
Die Gläubigen werden in irgendeine Seitenkapelle in den Seitenschiffen abgedrängt,
woran sich erkennen läßt, wie sehr die Kathedrale die Domäne der Geistlichen
ist. Die Jahrhunderte haben in ihren Händen märchenhafte Schätze angehäuft,
die heutzutage dem staunenden Publikum gezeigt werden - nach Lösen einer Eintrittskarte!
Die Höhlen von Ali Baba sind nichts als Eisenwarenhandlungen verglichen mit
dem heiligen Gemach (Cámara Santa) von Oviedo, das die Kronjuwelen der asturischen
Könige birgt - glücklicherweise nach einem Einbruch wieder aufgetaucht - oder
verglichen mit dem Schatz von Valencia, der die Schale des heiligen Grals enthält,
oder mit den wundervollen Hostienbehältern aus massivem Silber, gearbeitet für
die Kapitel von Toledo, Valladolid, Compostela, usw. Dieser Vorrang der Kathedralen
und ihrer Kapitel ist besonders spürbar in den kleinen Städten, die, ohne Provinzhauptstadt
zu sein, Bischofssitze bleiben, wie beispielsweise Seo de Urgell oder Vich in
Katalonien, Segorbe oder Orihuela im Mittelmeerraum, Sigüenza oder El Burgo
de Osma in Kastilien, Plasencia oder Coria in Extremadura, und andere mehr.
Nirgends läßt sich das jahrhundertealte Gewicht der Kirche so gut nachvollziehen,
gleich einem lebenden Anachronismus.