Auf der Suche nach dem Volksglauben

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Auf der Suche nach dem Volksglauben

Dennoch waren Mönche und Geistliche weit davon entfernt, das Glaubensmonopol
für sich zu behalten, und entsprachen daher den Erwartungen der Religiosität
unter den Laien. So nahm eine Spanien eigene volkstümliche Sensibilität Gestalt
an, die im 16. und 17. Jahrhundert eine einzigartige Intensität erreichte. Deren
Üppigkeit wie auch teilweise leidenschaftliche Gewalt haben mal Faszination
und mal Widerwillen bei den Besuchern von jenseits der Pyrenäen hervorgerufen,
selbst wenn es sich um eifrige Katholiken handelte. Wer nicht gerade mit geschlossenen
Augen reist, wird der Sinnlichkeit nicht aus dem Weg gehen können, denn ihr
Erbe ist allgegenwärtig. Das rührt daher, dass der Glaube sich beim Spanier des
Goldenen Zeitalters über das Visuelle vermittelt, mehr als über mündliche Predigt
oder innere Meditation: sein Universum bevölkern Bilder, die sein Herz über
die Sinne erreichen.

Derjenige, egal ob nun gläubig oder Agnostiker, der diesen einzigartigen Ausdruck
des Glaubens wirklich verstehen möchte, bevor er ihn zusammenfassend beurteilt,
sollte sich eine Einführungsfahrt gönnen. Warum nicht von Saragossa aus aufbrechen,
wo die winzige Statue der Jungfrau von Pilar im Herzen der riesigen Basilika
untergebracht ist, deren quadratische Türme und elf Kuppeln mit den buntschillernden
Dachziegeln sich im Ebro spiegeln? Im Inneren können uns die majestätischen
Gewölbe des riesigen Mittelschiffs eher kalt lassen, obwohl unter einer der
Kuppeln Fresken des jungen Goya erhalten sind. Nähern Sie sich der Kapelle,
wo unter einem silbernen Baldachin ein Kerzenwald das verehrte Bildnis der Pilarica
anstrahlt, genau auf jenem »Pfeiler« (eigentlich eine römische Stele), auf dem
sie dem Apostel Jakobus erschienen sein soll. Und beobachten wir die andächtige
Prozession der Gläubigen jeden Alters, die warten, bis sie an der Reihe sind,
den heiligen Stein zu küssen - wie ein Stein des Wartens auf die himmlische
Stadt, vor zwei Jahrtausenden auf die Erde geworfen.

Aber der Glaube beschränkt sich nicht auf die fast magische Wahrnehmung des
Heiligen: zu seinen besten Zeiten war er erpicht darauf, es sich vorzustellen,
zu betrachten und zu verstehen. Ganz gewiß hat niemand diesen Erwartungen so
gut entsprochen wie das meteorengleich eingeschlagene Genie aus dem Orient,
mit dem man in Toledo Bekanntschaft schließen sollte. Es handelt sich nun nicht
mehr um die Stadt, in der drei Kulturen, nämlich die moslemische, die jüdische
und die christliche, friedlich zusammenlebten, sondern um den leidenschaftlichen
und geheimen Ort, der El Greco aufnahm. Innerhalb eines Zeitraumes, in dem an
sich nur Wunder vollbracht werden können, nur einige Dekaden umfassend, nämlich
von 1574 bis 1614, ließ er Toledo sich selbst erkennen, so wie es sich ihm zu
erkennen gab. Man darf sich dabei nicht täuschen lassen: das ästhetische Abenteuer,
vielleicht das überwältigendste in der Geschichte der Menschheit, verbindet
sich hier untrennbar mit einer theologischen Erfahrung, einer Enthüllung des
Mysteriums in den Augen des Fleisches. Wir dürfen nicht vergessen, dass für Dominikos
Theotokopulos, Erbe der Maler byzantinischer Ikonen, der Akt

des Malens nicht nur eine rein menschliche Schöpfung darstellt, sondern sich
auch die Erscheinung des Göttlichen damit verbindet. In der Kirche Santo Tomé
wirkt die Erschütterung, verursacht durch das Begräbnis des Grafen Orgaz, auf
den, der das Bild entdeckt, wie eine Offenbarung: die gleiche, bei der im unteren
Bildabschnitt die schwarzgekleideten Toledaner mit ihren ernsten und bekannten
Gesichtern Zeugen sind, in Gegenwart der göttlichen Botschafter, des heiligen
Stephanus und des heiligen Augustinus, welche die bewegungslose Rüstung des
Sterblichen in den bunten Nimbus ihrer Dalmatiken wickeln; während im oberen
Abschnitt - nach Art eines romanischen Tympanons - das in gleißendes Licht getauchte
himmlische Gefolge sich der menschlichen Form des Gerechten öffnet, im Gedränge
der Flügel sich neigend. Nachdem Schleier vor unseren Augen einmal zerrissen
ist, lassen wir uns zu den leidenschaftlichen Visionen hinführen, die sich andernorts
in Toledo darbieten: in der Sakristei der Kathedrale, im Museum Santa Cruz,
im Hospital de Tavera, begegnen wir den Zeugen dessen, was er gesehen hat -
die »Surrealität des Heiligen«.

Aber noch weitere, äußerst kontrastreiche Erscheinungen erwarten uns an diesem
abgelegenen Ort der Extremadura, wo sich das Kloster von Guadalupe befindet.
Bevor die Madonna ihre schützende Hand über die geistige Eroberung Amerikas
durch die Konquistadoren hielt, hatte sie das festungsartige Kloster, nach dem
die Insel Guadeloupe benannt worden ist und das einsam in seinem Tal liegt,
in einen der strahlendsten Orte auf der Iberischen Halbinsel verwandelt. Das
Kloster wird beim Verlassen des unebenen Landes sichtbar, von klaren Rinnsalen,
Orangen- und Olivenbäumen umgeben, und beherrscht durch seine Massigkeit, von
engen Fensteröffungen unterbrochen, das Dorf: die unregelmäßig angeordneten
Häuser und die Gassen mit ihrem Kopfsteinpflaster, in denen die Hufe der Esel
widerhallen. Rings um den großen, im Mudejarstil gehaltenen Kreuzgang mit den
Hufeisenbögen erinnert eine Reihe schlichter Darstellungen an die Heldentaten
der heiligen Jungfrau: so fand ein Schäfer ihre zu Beginn des Maureneinfalls
verschwundene Statue wieder; oder aber an ihre Eingriffe in die Kämpfe der Kirche
gegen die Ungläubigen und Gottlosen. Jüngstes Beispiel ist jenes Wunder, das
es den Mönchen ermöglichte, die »marxistische Barbarei« während des Bürgerkriegs
von 1936 zurückzuschlagen. Unermüdlich stärkte die Jungfrau so wie eine Schutzmacht
jahrhundertelang die kämpfende Kirche. Sie hat ihre Macht sowohl in die Dienste
der Großen und Mächtigen als auch in den der einfachen Leute gestellt, die herbeigelaufen
kamen und sich ihr zu Füßen warfen, um die heilige Macht zum Handeln zu bewegen.

In der Kirche erscheint ihre Gestalt von unten gesehen winzig und weit entfernt.
Und dennoch ist sie für den, der sie sucht, gut zu erreichen. Eine Hintertreppe
führt zur Heiligennische - dem camarín - im Rokokostil, mit Gemälden geschmückt,
die eher sinnlich denn mystisch anmuten. Der die Führung leitende Mönch löst
einen Mechanismus aus, durch den sich der Sockel um die eigene Achse dreht,
und schon steht man ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüber: ein faustgroßer,
schwärzlicher Kopf, verloren wirkend im königlichen Putz, der sie mit Brokat
ziert - über allem ihr funkelndes Heiligenscheindiadem. Daneben ein Opferstock
aus Glas für die Almosen. Etwas weiter sind die erhaltenen Opfergaben ausgestellt:
mit Gold eingefaßte Brillanten, perlenbesetzte Diademe, militärische Orden,
bis hin zu Fächern aus Schildplatt und Seide ... Die heilige Macht verachtet
auch den Reichtum nicht.

In der Sakristei ist die Gemäldereihe des spanischen Malers Zurbarán in ihrer
barocken Umgebung geblieben: die Wunder der Madonna, Antwort auf die Gebete
der Ordensbrüder und der Heiligen, stehen im Gegensatz zum Übernatürlichen -
sie sind das natürliche Ergebnis aufrichtiger Inbrunst. Landschaften, Kleider,
Bauformen, Licht, alles steht im Einklang mit der Reinheit der mystischen Seele.
Der Glaube regelt und besänftigt die sichtbare Welt: die ruhigen Falten der
Mönchskutten, die gezügelte Palette, die Licht und Schatten gerecht wird, wobei
sie das Grau zum Klingen bringt, die klaren Kanten der Mauern; man könnte meinen,
die Intensität der Seele übertrage sich auf die Dinge. Auge und Hand Zurbaráns
erreichen vor allem in Guadalupe den Gipfel des klösterlichen Lebens: sich nur
von der Welt zurückzuziehen, um ihr einen Sinn zu verleihen.

Auf dem Weg nach Sevilla, wo er wohnte und wo mehr als hundert seiner Gemälde
erhalten sind, gönnen wir uns einen Abstecher zum Dorf Arroyo de la Luz, unweit
der schmucklosen Paläste von Cáceres. In der Kirche ist ein mächtiger Retabel
erhalten geblieben, auf dem elegante, platereske Säulen sechzehn Gemälde umrahmen:
die bedeutendste Werkreihe, die Luis de Morales, genannt der »Göttliche«, gemalt
hat. In diesen Szenen aus dem Leben Christi und dem der heiligen Jungfrau durchflutet
ein perlmutterartiges Licht im transparent wirkenden Hintergrund die irdischen
Stationen der Heldentaten Jesu, wodurch sie uns sehr nahe gebracht werden. Eine
feierliche Bescheidenheit geht von den mit Schatten unterlegten Augen Marias
aus, sowie vom eingefallenen Gesicht des verhöhnten Heilands. Morales´ persönlicher
Stil respektiert hier die Funktion des Altaraufsatzes, von denen in den Kirchen
Spaniens Tausende von Beispielen zu finden sind: eine Vielzahl von Abteilungen
unterteilt diesen über dem Altar, den Gläubigen unmittelbar gegenüberliegenden
Reliefwandschirm und soll ihnen die großen Momente der Heilsgeschichte und die
schützende Anwesenheit der Heiligen nahebringen. Der Überfluß an Altaraufsätzen
im Goldenen Zeitalter veranschaulicht, wie sehr damals für die Gläubigen die
Vermittlung des Glaubens eine visuelle Angelegenheit war.

In Sevilla manifestiert sich die volkstümliche Religiosität der Andalusen überschwenglich
in einer einzigartigen Verschwendungssucht. Beschränken wir uns hier darauf,
die wichtigsten Akzente festzuhalten. Allen voran ist da die Faszination, welche
die Leiden Christi ausüben, in Gestalt polychromer Skulpturen auf besonders
beeindruckende Weise zum Ausdruck gebracht. Sevilla ist einer der beiden Pole;
der andere wird von der kastilischen Schule gebildet, deren Kollegium San Gregorio
in Valladolid die Hauptwerke zusammenfaßt. Von Kirche zu Kirche, vom brüderlichen
Cristo de la Clemencia vom großen Montañez (in der Kathedrale) bis zum herzzerreißenden
Jesús del Gran Poder von Juan de Mesa (in der Kirche San Lorenzo) folgen immer
verzweifeltere Erscheinungen aufeinander. Da diese Volkskunst darauf versessen
war, im leidenden Christus das absolute Maß des Schmerzes auszudrücken, könnte
man fast meinen, dass sie schließlich in ihren Ausläufern die göttliche Natur
des Hingerichteten vergißt: der zerzauste »Jesús Nazareno« mit dem verstörten
Blick; Christus am Kreuz, gefangen in seinen Fesseln; krampfhaft verzerrte Gekreuzigte;
dem Zerfall ausgesetzte Leichenfiguren ... neigte der Hyperrealismus dieser
»Bilder« nicht dazu, durch Vergleiche jegliches menschliche Leid erträglich
werden zu lassen? Aber liefe man nicht Gefahr, den Versuchungen der Verzweiflung
zu erliegen, wobei der erlösende Schwung durch den Auferstandenen vergessen
würde?

Die Mutter Gottes begleitet ihren Sohn auf diesem Weg in die Finsternis: das
tränenüberströmte Gesicht der Macarena, der am meisten geliebten Madonna Sevillas
(in der Kirche San Gil), ist das einer zu den Abgründen herabgestiegenen Frau.
Am Rande des Taumels zur Hoffnungslosigkeit gelingt es dem vom Rausch der Gabe
wie erstarrten Gläubigen nur sie anzubeten, indem er ihren Körper, dessen Schönheit
nahe und doch unzugänglich ist, verschwenderisch mit Brokat und Juwelen bedeckt.

Zwei Maler der Sevillaner Schule, die beide nicht unterschiedlicher hätten
sein können, sind auf die dumpfen Ängste des Glaubens eingegangen. Murillo,
bei weitem der populärere, erhellt den Schmerz seiner verletzten Kinder und
seiner jämmerlichen Bettlergestalten, indem er den aufgewirbelten Staub eines
vergoldeten Himmels über sie breitet, von wo aus sich das Jesuskind erhebt und
wo die Maria Immaculata in einem Strom von Cherubinen entschwebt. Tröstende
Verwunderung, die Gefahr läuft, sich als recht flüchtig herauszustellen. In
diesem Augenblick erscheinen unter dem Pinselstrich von Valdés Leal die atemlosen
Krämpfe der Drei Marien und des heiligen Johannes auf dem Leidensweg (im Museum
der Schönen Künste) und am Ende der Nacht die Gemälde genannt »Die Hieroglyphen
des Todes«, des Hospitals de la Caridad: der Tod greift darauf nach dem verlassenen
Sarg, in dem der Leichnam eines Bischofs gerade in die Verwesung übergeht.

Wer die Entwicklung des Volksglaubens weiter verfolgen möchte, der begibt sich
am besten nach Murcia. Dort wirkte im 18. Jahrhundert Francisco Salzillo, dessen
Familienwerkstatt zu Hunderten die bunten Skulpturen anfertigte, um den auf
sie einstürmenden Aufträgen gerecht zu werden. Das ihm gewidmete Museum gibt
eine Vorstellung von seiner Geschicklichkeit: er brilliert bei den kleineren
Motiven, mit denen er einen belén (verkürzt aus Bethlehem) aus- bzw. überfüllte,
eine mit dem neapolitanischen presèpe verwandte Krippe. Aber was soll man über
den wirren Blick seines niedergeschlagenen Jesu sagen, über die entstellten
Augen seiner Mater dolorosa oder über den zweifelhaften Engel in Gestalt eines
Epheben, der Christus auf dem Ölberg tröstet? Jedenfalls haben die auf diesen
lebendig wirkenden Bildern festgehaltenen Gefühle die Sensibilität der Massen
in Schwingung versetzt. Aber konnte sich ihr Glaube an diesen Speisen nähren,
welche schon die Stereotypen der Kitschkunst ankündigen? Ein Tag wird kommen,
da die kollektiven Verhaltensmuster, von diesen künstlichen Emotionen hervorgerufen,
der Umgestaltung einer Gesellschaft weichen werden, die sich bisher darin so
gefiel.