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Demokratie

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Westminster

So funktioniert die englische Demokratie

Englands Volksvertreter halten verbissen an Ritualen und Hierarchien fest, die auch andere männliche Institutionen kennzeichnen, etwa die Justiz, den Club oder die „guten“ Universitäten Cambridge und Oxford. Tatsächlich läuft die Sache wie im Männerpensionat ab.

Minister der Regierung und Mitglieder des Schattenkabinetts der Opposition okkupieren die vorderen Bänken (frontbenchers). Dahinter sitzen Abgeordnete ohne Meriten (backbenchers), die nach ihrer „Jungfernrede“ (maiden speech) jahrelang im Schatten verweilen, bis Premier oder Oppositionsführer sie nach vorn rücken. Als alten Fraktionshasen kommt es den „Einpeitschern“ (whips) zu, Neulinge in die Parlamentsbräuche einzuweihen und bei Abstimmungen auf Linie zu halten. Der Chief Whip jeder Partei schmiert das Beziehungsgeflecht zwischen Exekutive, Opposition und Fraktion, benötigt aber viel Fingerspitzengefühl.

Auch in GB sind Abstimmungen nämlich alles andere als freie Willensbekundungen intelligenter Erwachsener. Große Themen werden von einer three line whip begleitet, einer dreifach unterstrichenen Anweisung, über die sich keiner in der Fraktion hinwegsetzen soll. Ein guter Chief Whip operiert aber meist mit one line whips, die Exzentrikern Raum zur Profilierung lassen. Wer an einem Votum nicht teilnehmen kann, verständigt sich mit einem „gleichwertigen“ Kollegen (pair) der Gegenseite, damit dieser ebenfalls durch Abwesenheit glänzt – was bei nächster Gelegenheit erwidert wird.

Sitzungsrituale

Jede Sitzung im Unterhaus wird mit einer Prozession eröffnet. Vorneweg schreitet mit güldenem Wappen ein Sergeant at Arms, der für die Ordnung im Parlament sorgt. Dahinter kommt der Speaker des Hauses, samt Perücke und Schleppe, mit der sich ein Assistent abmüht. Er wird vom Kaplan, der das Gebet leitet, und einem Sekretär gefolgt. Erst wenn all diese Wichtlinge sitzen, kann es losgehen.

Von besonderem Reiz sind Fragestunden, in denen es für die Opposition darum geht, durch fiese Wortwahl einen Minister in die Falle zu locken. Er soll mehr zusichern, als er halten kann, zumindest aber sich selbst oder einem Kollegen widersprechen. An Fragestunden schließt sich die Debatte der Gesetzesanträge an. Obzwar sie sich gegenübersitzen, dürfen Abgeordnete nie einander ansprechen. Sie tun so, als wendeten sie sich an den Speaker und nennen den eigentlichen Adressaten nur in der dritten Person. Vorsichtshalber verläuft eine Trennlinie vor der front bench jeder Partei, die sie zwei Degenlängen vom Gegner fernhält. Wer sie überschreitet, sieht vom Speaker die Rote Karte. Dennoch erhitzen sich die Gemüter gewaltig. Die Tiraden sind um so gehässiger, als sie ja indirekt bleiben, und Wortbeiträge werden von geknurrtem aye (archaisch „Ja“) oder entrüstetem Stöhnen begleitet.

Wenn endlich abgestimmt wird, verlassen Befürworter des Antrags den Saal rechts vom Sprecherstuhl, während die Gegner links marschieren und ein Teller laut mitzählt. Zum Schluss fragt der Sprecher Who goes home?, als Reminiszenz an eine Zeit, da Abgeordnete aus Furcht vor Wegelagerern nur in Gruppen reisten.

Parlament als Souverän

England besitzt keine geschriebene Verfassung. Es gilt das germanische Gewohnheitsrecht (common law), das eine Niederschrift (statute law) überflüssig erscheinen lässt und sich nur auf den gesunden Menschenverstand beruft. Jenen common sense also, von dem viele Engländer glauben, er sei ihr nationaler Rohstoff.

Das Kabinett nennt sich „Regierung Ihrer Majestät“, agiert aber frei, während Ihrer Majestät Mitwirkung symbolischer Art bleibt. So entspannt war das Verhältnis nicht immer. Queen Victoria versuchte mehrfach, Entscheidungen per (verbalem) Nudelholz zu beeinflussen. Karl I. drang 1647 gar ins Unterhaus ein, um vier Abgeordnete festnehmen zu lassen. Das trug ihm nichts Gutes ein: Zwei Jahre später verurteilte ihn das Parlament zum Tode. Seither wurde kein König mehr im Unterhaus zugelassen.

Folglich besteht die Taktik der Abgeordneten seit dem 13. Jh. darin, sich den Ansprüchen des Monarchen zu widersetzen, indem sie vorgeblich in seinem Namen handeln. So gehört jede öffentliche Einrichtung im Lande dem Souverän, von Gefängnissen bis zu Briefkästen, doch ist er genau in diesem Bereich machtlos. Zwar empfängt die Queen „ihren“ Premier wöchentlich, um laufende Geschäfte zu bereden, doch hat sie kein Weisungsrecht. Elisabeth II. herrscht zudem über 16 Länder des Commonwealth und garantiert deren Demokratie und Freiheit, hat im Falle ihrer Missachtung aber wenig zu melden. Die Einsicht in alle Kabinettsdokumente macht sie zur bestunterrichteten Person im Reich. Ihr Einverständnis (royal assent) zu Gesetzen gibt sie also als Kennerin der Lage – aber ohne die Möglichkeit, Nein zu sagen.

Angetan mit Hermelinmantel und Krone, begibt sie sich Anfang Nov und nach jeder Wahl ins Oberhaus, um die Sitzungsperiode feierlich zu eröffnen und „ihre“ Ansprache zu halten. Dass diese vom Premier verfasst wird, belegt die eingespielte Arbeitsteilung. Die Royals sind derart in Zeremonien verstrickt (Krankenhäuser einweihen, Schulen besuchen, Veteranentreffen vorsitzen), dass ihnen keine Zeit für die Politik bleibt. Zugleich wird der Premier von diesen Pflichtübungen entlastet, um sich allein dem Staatsgeschäft widmen zu können.

Budget Day

Jeder Engländer, zumal jeder Finanzjongleur der City, fiebert dem Tag entgegen, an dem im Parlament der Haushalt verkündet wird. Seine Planung wird möglichst geheim gehalten, bis der Schatzkanzler im Unterhaus das Wort ergreift. Dann ist die visitor´s gallery gestopft voll mit Journalisten und Mitgliedern des Oberhauses. Auch die Abgeordneten wetteifern um die besten Plätze. Manche sichern sich Sitze, indem sie eine Gebetskarte (prayer card) mit ihrem Namen drauflegen. Andere finden sich ausnahmsweise pünktlich ein, und Agnostiker, die am Gebet ja nicht teilnehmen, kriegen nur Restplätze ab. An diesem Tag legt jeder Abgeordnete Wert darauf, seine politische Herkunft klarzustellen. So sieht man Zylinder und Seidenwesten bei den Tories, Arbeitsanzüge und gelegentlich Schutzhelme in den Reihen von Labour.

Gegen 15h tritt der Schatzkanzler aus 11 Downing St und präsentiert dem wartenden Volk die Lederschatulle mit seiner Ansprache und dem Budgetplan. Dann fährt er ins Parlament, wo ausnahmsweise der Chairman of Ways and Means moderiert, da es dem Speaker als Thronvertreter schlecht anstünde, eine Debatte über die Finanzen des Reiches zu leiten. Der Kanzler zögert mit einer langatmigen Rede die Ankündigung seiner Pläne hinaus, bis ihm signalisiert wird, dass die Börse geschlossen hat. Sobald früher der Etat vorlag, wurde er den Börsianern nämlich von eigens angeheuerten Boten im Dauerlauf durch die City zugetragen.

Royal Ritual: Und wenn es regnet?

Die Leitung königlicher Zeremonien obliegt den Herzögen von Norfolk, denen seit jeher eine lakonische Art zu Eigen ist. Als Charles zum Prince of Wales gekürt werden sollte, stellte sich heraus, dass bei schlechtem Wetter nicht jeder hochrangige Gast unter dem Tribünendach Platz finden würde. Auf die Frage eines besorgten Earls, „Und wenn es regnet?“, antwortete der Zeremonienmeister: „Dann werden wir nass.“