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Gerichtsbarkeit

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Die schändlichste aller Sünderinnen

Gerichtsdiener in den Inns of Court sind angehalten, Hausierer, Ruhestörer und lästige Gäste der Örtlichkeit zu verweisen.

So warnt ein Schild am Eingang von Gray´s Inn. In die heiligen Hallen der Rechtsprechung soll bittschön nichts von der Rastlosigkeit der City schwappen. Tatsächlich haben die Inns im Temple mit Cambridge oder Oxford viel gemein: die Architektur, die von Hierarchien getränkte Atmosphäre, Rituale wie das dinner der Referendare. In den Inns waren Anwälte und Studenten seit dem 12. Jh. unter sich. Wie an jeder anständigen englischen Universität sollten nämlich Außenkontakte vermieden werden. Nie sah man Angehörige anderer Berufsgruppen in den Inns, und bis heute ist es unüblich, dass Anwälte direkt mit ihren Klienten sprechen. Das geschieht mittels eines solicitors (Vertrauensmann), der auch notarielle Aufgaben erledigt. Er nimmt sich des Falles an, prüft die Details und verfasst ein Resümee, das der barrister (Anwalt) angeblich erst kurz vor der Verhandlung liest. Obzwar Freiberufler, müssen Anwälte kraft der taxi rank rule (Warteschlangengesetz) reihum jeden Fall annehmen, der ihnen vom solicitor angetragen wird, sofern sie dazu kompetent sind.

Richter sind stets ehemalige Anwälte. Sie sollen nicht die Wahrheit ermitteln, sondern über Rechtsfragen entscheiden und per Spitzfindigkeiten den Streit zweier Parteien schlichten. Während manche Briten ihre Richter für die Inkarnation gesunden Menschenverstandes halten, sehen andere darin Karikaturen vertrottelter Greise, die sich in ihrem Wortschwall verheddern. Dazu trägt bei, dass Recht bis 1790 in „normannischem Französisch“ gesprochen wurde, einem Idiom aus der Zeit der Eroberung, das nur barrister verstanden. Bis heute heißt Zivilrecht tort law, was sich vom französischen tort (Unrecht) ableitet. Dieses Rechtskonzept forderte schon viel Spott heraus. Charles Dickens etwa ätzt in Bleak House (1853), das weitgehend im Lincoln´s Inn angesiedelt ist:

Kein Nebel kann dicht genug, kein Schlamm dick genug sein, um dem Stoff zu entsprechen, in dem diese hohe Kanzleigerichtsbarkeit tastet und watet, die schändlichste aller alten Sünderinnen.

Dickens war nicht ahnungslos: Nach der Schule verdingte er sich als Schreiber eines solicitors im Gray´s Inn.

Jeder gute Brite ist wild auf bizarre Inn-Anekdoten. So wollten zwei alte Damen die Memoiren eines seit 30 Jahren toten Schriftstellers veröffentlichen, die er ihnen im Laufe spiritistischer Sitzungen diktiert habe. Seine Erben erhoben umgehend Anspruch auf die Urheberrechte. Da man auf kein Urteil in Bezug auf Geister zurückgreifen konnte, tobte ein erbitterter Kampf zwischen den Anwälten, bis der Richter schließlich beiden Medien den urheberrechtlichen Lohn zusprach – zumindest auf Erden.

Gestank unter 300 Jahre jungen Zöpfen

Die Richterperücke ist wohlbekannt, vielbestaunt, ja eine Institution der Insel – und entzweit seit Jahren deren Richterschaft. Reformer streben die Abschaffung des guten Stücks an, Konservative stemmen sich gegen diesen „Akt des Vandalismus“. Warum solle man Traditionen über den Haufen werfen, bloß weil der Geschmack sich seit 1705 geringfügig gewandelt habe?

Versuche, die haarige Zierde an den Kleiderhaken der Geschichte zu hängen, sind alt. Abfällige Äußerungen des neuen Obersten Richters, Lord Justice Taylor, verhelfen ihnen aber seit 1998 zu neuem Leben. Als Betty Boothroyd, erste Frau auf dem Thron des Speakers im Unterhaus, sich 1998 entschied, ohne Perücke am Arbeitsplatz zu erscheinen, werteten Zopfabschneider im Lande das als Fanal. In einer Oberhausdebatte machten sogar des Kunsthaars überdrüssige Lords ihrem Kummer Luft. Lord Richard gestand, es bereite ihm nie Freude, im Dienste Justitias Perücken zu tragen: „Die Dinger kratzen extrem.“ Seine Familie zähle die Perücke zum Unterhaltungsinventar des Hauses: „An Regentagen kommen meine Kinder gelaufen und rufen: Daddy, zieh sie auf, damit wir was zu lachen haben.“

Bei soviel Respektlosigkeit stand passionierten Perückenträgern im Oberhaus das Rosshaar zu Berge. Ohne Kopfbedeckung, meinte Lord Champbell of Alloway, gäbe es keine Würde vor Gericht und keine Achtung des Angeklagten vor dem Richterspruch. Lord Donaldson, Oberarchivar Ihrer Majestät, sah in der Perücke eine nützliche Form der Verkleidung: Damit sei das Risiko geringer, im Supermarkt von Ex-Prozessteilnehmern erkannt zu werden. Lord Ackner, der Oberste Berufungsrichter, berichtete besorgt, dass in Australien zwei Richter von Angeklagten erschossen worden seien, nachdem an den Familiengerichten Perücke und Robe abgeschafft wurden. Mit Vergnügen übernahm die britische Presse Ackners Argumentation und schlug vor, Richter sollten mit Perücke zum Einkaufen gehen und Zeugen wollene Kapuzenmützen erhalten.

Schließlich verkündete Lordkanzler Mackay of Clashfern, er werde mit den höchsten Richtern Lösungsvorschläge erarbeiten, müsse zuvor freilich die Königin konsultieren: „Denn es liegt auf der Hand, dass sie ein gewichtiges Interesse an diesem Thema hat.“ Sein Urteil gefällt hatte schon der Vorsitzende der Anwaltskammer. Perücken seien längst irrelevant, meinte Gareth Williams. Doch wegwerfen brauche man sie nicht: „Sie eignen sich prima als Requisiten für Weihnachtsaufführungen.“

Und wo werden die guten Stücke hergestellt? Nun, bei Ede & Ravenscroft (93 Chancery Lane, WC2). Dieser Laden liefert seit 1689 wigs und gowns: Perücken und Talare. Auf knarrendem Parkett liest unaufdringliches Personal der handverlesenen Kundschaft jeden Wunsch von den Augen ab.

Richterbedarf: Wer wird perückt?

Seit 1822 führt Ede & Ravenscroft ein Kundenbuch mit Kopfmaßen von Anwälten und Richtern, das sich wie ein Who´s Who englischer Eliten liest. Hergestellt werden die Schmuckstücke aus Rosshaar und Seide im Untergeschoss von zwei Ladies, die zusammen über 70 Jahren Berufserfahrung besitzen. Eine Maßanfertigung kostet ab 500 € und nimmt acht Wochen in Anspruch. Auf Wunsch werden dunkle Härchen eingewirkt, damit die neue Haarzier ihren Träger nicht von weitem als Jung-Anwalt entlarvt.