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Hever

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Hever Castle

40 km sö von London, an der B2026, 5 km sö von Edenbridge, T. 01732/865 224. www.hevercastle.co.uk. März-Nov tgl. 11-18h, Einlass bis 17h. Eintritt 14 €, Senior/Kind/Familie 12/8/36 €; nur Gärten 11 €, bzw. 9/7/29 €.

Im feinen Schloss (1270, erweitert Mitte 15. Jh.) mit Burggraben verbrachte eine faszinierende Frau ihre Kindheit: Anne Boleyn. Der zweiten Gattin Heinrichs VIII. ist indirekt eine vom Papst unabhängige englische Staatskirche zu verdanken. 1903 ging Hever in den Besitz von William Waldorf Astor über, der die Tudorfassade unangetastet ließ, das Innere aber durch edle Holzarbeiten aufwertete. Hevers Sammlungen sind so kostbar wie eigenwillig: Alte Meister, zwei reich verzierte Stundenbücher von Anne Boleyn – und Henkersbedarf!

Gärten. Auch die Gärten (1904-08) sind Astors Beitrag, samt Wasserlabyrinth und italienischem Teil, in dem wunderliche Skulpturen dem Spaziergänger nachblicken. Im Jul/Aug finden auf Hever mittelalterliche Tjost-Turniere in voller Montur, aber ohne scharfe Waffen statt, inklusive Bogenschießen nach Tudor-Art.

Zug von Victoria nach Edenbridge (50 min, one-way 9 €), dann 5 km per Taxi zum Schloss; oder von Victoria nach Oxted, umsteigen nach Hever (1 Std), dann 1500m marschieren.

Anne Boleyn und Heinrich VIII.

Zwischen Hever und Henker

Mit 17 Jahren landet Anne Boleyn (1507-36) bei Hofe. Als ebenso kluge wie schöne Gesellschafterin von Katharina de Aragon (1484-1536), der früh gealterten Gemahlin Heinrichs VIII. (1489-1547), entfacht sie bald des Königs Leidenschaft. Zuvor war Annes Schwester Mary Heinrichs Mätresse gewesen, ohne dass sich kronrechtliche oder private Folgen daraus ergeben hätten. Nun erklärt die neue Favoritin, sie wolle ihrem König nur als Gattin „gehören“. Laut ihrer Biographin Jean Plaidy gönnt Anne dem sinnenfrohen Heinrich, der gewohnt ist, sich zu nehmen, wonach ihn gelüstet, nicht einmal einen Kuss.

Erst die Beimischung anderer Motive erhebt die Hofintrige aber zu welthistorischer Bedeutung. Wie jedem König geht es Heinrich auch um den Fortbestand seiner Dynastie. Er benötigt den Thronfolger, den ihm Katharina nicht „schenken“ kann; die spröde Spanierin hat drei Knaben und zwei Mädchen zur Welt gebracht, doch bis auf Maria (geb. 1516) sterben sie im Kindbett. Nun macht Heinrich Gewissensbisse geltend: Ist der Tod vierer Säuglinge ein Zeichen für Gottes Zorn über diese Ehe? Ursprünglich war Katharina, die Tochter von Spaniens König Ferdinand, dem englischen Kronprinzen Arthur vermählt, ging aber nach Arthurs frühem Tod als Witwe an dessen Bruder Heinrich über.

Zwar hat Papst Julius II. den Dispens erteilt, der für Verwandtenehen nötig ist. Doch darf er überhaupt von einem göttlichen Gebot dispensieren, wo doch das Alte Testament die Ehe mit der Witwe des Bruders untersagt? „Man hat die Ernsthaftigkeit dieser Gewissensbedrängnis, in der Obertöne theologischer Kritik an den Kompetenzen des Papsttums immer stärker wurden, in Zweifel gesetzt. Aber es besteht kein Anlass, in der Vielschichtigkeit von Heinrichs Charakter eine drängende Sorge um das Heil des königlichen Blutes auszuschließen.“ (Heinrich Lutz)

Und da wartet ja auch die verlockende Anne. Heinrich scheint nur ein Ausweg gangbar: die kirchenrechtlich begründete Annullierung der Ehe mit Katharina. Während der neue Papst Clemens VII. auf Zeitgewinn setzt, läuft bei Hofe seit 1527 ein Wettbewerb um die Lösung des Eheproblems: Wer einen Weg zur Ehe mit Anne findet, wird zum Aufsteiger der Saison. Mehrere Universitäten legen Gutachten vor, dass die Ehe mit Katharina ungültig sei. Im Parlament sorgt Thomas Cromwell für eine Reihe scharfer Dekrete, die die Eigenständigkeit der Kirche einschränken. Damit avanciert er zu Heinrichs neuem Vertrauensmann, der bei der Auflösung der Klöster 1535/36 eine harte Hand beweisen wird.

Nun gerät, „nicht zu früh und nicht zu spät“ (Heinrich Lutz), Annes Standhaftigkeit ins Wanken. Im Jan 1533 wird bekannt, dass sie ein Kind vom König erwartet. Bald kommt es zur geheimen Trauung mit Heinrich, und der vom König berufene Erzbischof von Canterbury verkündet: Die erste Ehe sei ungültig, die zweite gültig. Im Apr wird Anne gekrönt, im Juli gebiert sie Prinzessin Elisabeth, im Herbst scheitern letzte Einigungsversuche mit Rom. 1534 bestimmt die Suprematsakte, dass der König justly and rightfully is and ought to be Supreme Head of the Church of England. Fortan wird offiziell nur noch vom Bischof von Rom gesprochen; es gibt keinen Papst mehr.

Anne Boleyn erlebt nicht mehr viel vom englischen Sonderweg, der bis auf ein Intermezzo 1554-59 bis heute gilt. Sie ist Heinrichs zweite Frau (von sechs) und die erste (von zwei), die er hinrichten lässt, weil auch sie keinen Thronfolger „zustande bringt“. 1536 konstruieren Heinrichs Schergen eine Verschwörungstheorie gegen Anne, die im Tower bis aufs Schafott ihre Unschuld beteuert. 1558 erklimmt ihre Tochter Elisabeth I. den Thron und begründet Englands Goldenes Zeitalter.

Und was Hever angeht: Nach dem Tod seiner dritten Frau Jane Seymour, die kurz nach der Geburt des schwächlichen Eduard 1537 stirbt, besitzt Heinrich VIII. die Perfidie, seine vierte Frau in Anne Boleyns Jugendschloss abzuschieben. Er hatte sich 1538 Anna von Kleve quasi per Katalog bestellt. Holbein war ausgesandt worden, um ihr Porträt zu malen. Als die junge Dame aber auf der Insel eintrifft, ist Heinrich entsetzt: Das sei ja „eine flandrische Stute“. Dafür schickt er den Einfädler Thomas Cromwell aufs Schafott und Anna von Kleve nach Hever – unberührt bis zur Scheidung, denn nun findet der 50-jährige aufgedunsene König Gefallen an Catherine Howard, der 18-jährigen Nichte Anne Boleyns. Catherine wird 1540 Heinrichs fünfte Frau und 1542 ebenfalls hingerichtet.