Altiplano

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Was ich gern wäre - 2. Versuch

Von Potosi nach Uyuni

Was ich gern wäre ist ein fiktionales Gesangsstück, das nicht immer auf dem direkten Weg in die Ohrherzen der Lauschenden führt ...

Weg von Potosi nach Uyuni, sechs Stunden Busfahrt durch versteppte Andenhöhen mit Ruckelrambazamba-Schlagloch-Feeling, vorbei an unzähligen kleinen aufgetürmten Steinhaufen, lokale Gedenkstätten für Pachamama (Mutter Erde), die einmal mehr zeigen, dass Bolivien auch heute noch ganz andere Götter verehrt und seine ursprüngliche Kultur am Deutlichsten in diesem Kontinent bewahrt hat. Die Berge sehen vom ganzen Stechgras fruchtbar und herrlich grün aus, sind es bei genauerem Hinsehen aber nicht, sondern eher karge, wüstenähnliche Gebirgsformationen, die dafür zum Verweilen, zum Sinnieren, zum Aus-dem-Fenster-starren einladen und zum Träumen, in was ich mich verwandeln könnte.

Zum Beispiel in die ungezählten Ruinen, ehemalige Schlicht-Häuser, das sind einfach herumliegende Steine, aufeinander geschichtet zu Wänden, Zäunen und Behausungen, im Format vier mal drei Meter, wo sie dann zu Neunt als Nowhere-Familie gelebt haben. Aber irgendwann haben die einstigen Bewohner diese Stätten verlassen und ganz Bolivien scheint überzuquellen von diesen Wandresten ohne Dach, Symbol der Flucht und des Verlassens, hin in die Städte zum großen Kleingeld oder ins nächste Dorf zum Maisanbau. Triffste auf ne Bauernfamilie, die neugierig ängstlich aus so nem kleinen Häuschen mit Strohdach rausguckt, triffste ein Kilometer weiter auf ein paar zerfallene Steine ohne Stroh und ohne Mensch.

Wäre mir abschließend betrachtet zu langweilig, so ganz ohne Hut auf dem Kopf an irgendeiner Sandstraße im Niemandsland rumzustehen und darauf zu warten, dass mir irgendjemand die letzten Steine klaut.

Stell ich mir stattdessen vor, ich sei einer der Schriftzüge auf diesen verlassenen, doch ebenso auf noch bewohnten Mauerstreifen und Hauswänden. Graffiti, neudeutsch tituliert, stellt man sich gemeinhin anders vor. Irgendwelche komplizierten Namensgebungen oder coole Freakshow-Bilder. Die hauptsächliche Graffiti, die Südamerika kennt, ist Wahlwerbung. Überall finden wir: "Wir wählen so und so, Liste Nummer Eins, retten kann euch nur ..." Das Ganze ist den schönsten Buntfarben, mit dazugehörigem Kreis plus Kreuz darin, damit man weiß, worum es hier eigentlich geht. Anfangs haben wir gedacht, dass die Besitzer der Hauswände von irgendwelchen Vögten oder Landherren zu dieser künstlerischen Untat gezwungen werden, mittlerweile hat sich rausgestellt, dass dies jeder freiwillig macht, um zu zeigen, was er von wem hält und wen er wählt. Ist natürlich auch nix für mich, bunt auf Stein daherzukommen, Politiker sind in den Augen der Südamerikaner korrupt und eigensinnig und davon geb ich zumindest heute mal ein bisschen ab.

Will ich lieber Lama sein? Davon hat´s auf diesen sechs Stunden Busabenteuer mehr als genug, hunderte säumen den Weg, laufen quer über die Straßen, die man ja nicht so nennen kann, oder stehen friedlich grasend in 40- oder 50-er Herden auf den kargen Weiden. Gut, dass grad Karneval war, sehen die Dinger nicht nur friedlich, sondern auch buntlich aus, haben rosa Bänder im Ohr und sind somit noch "süßer". Boliviens Altiplano ist Lama-Country, hier regiert der Huf, und die Dinger spucken nicht wirklich stetig, sind höchstens ein bisschen scheu, aber jedem anderen Tier, auch dem Mensch, in Quantität deutlich überlegen. Letztlich entscheide ich mich gegen das Lama, weil sie mir zu arschwackelig und tranig sind, aber hee, Boliviens Altiplano wird vom Lama regiert, das ist offensichtlich.

Je näher wir der Wüstenstadt Uyuni, auf 3600 Meter gelegen, kommen, könnte ich mich in einen der zahlreichen Kakteen verwandeln, die die Berge säumen, wie andernorts Schnee die Gipfel. Stehen phallusartig zum Himmel gestreckt, von weitem sichtbar als scheinbar unrasierter verstoppelter Berg, manche weißfederig geschmückt, andere mit roten Blüten, andere wirr verformt dem Wahnsinn entgegen, und bisweilen so dicht wachsend, dass selbst Lama-Chef keine Lust mehr hat, diese Gegend abzugrasen. Doch dem Kaktus zeig ich nach reiflicher Überlegung ebenfalls die kalte Schulter, klaro, zu stachelig, da kommt ja keiner mehr an dich ran.

Der Bus mit seiner lauten Schnöselmusik, den zerfetzten Sitzen, den Omas, die sich mit ihren Trachten plumpsend in der Mitte des Ganges niederlassen will ich selbstredend schon gar nicht sein, auch wenn die ehemaligen Flussbetten, die zur Regenzeit zu kleinen Bächen werden, vom Bus durchfahren werden, was natürlich Riesenspaß und Abenteuer ist, wenn man mit so nem Gefährt durchs Nass strömt, so´n bisschen Marlboro- oder Camelman-mässig. Reicht aber nicht, um mich in den Bus verwandeln zu wollen.

Erkenntnis eines Wanderers

Ich hab mich letztlich schon zu Beginn der Fahrt entschieden, und den ganzen Sermon nur als prosaische Ergänzung und Bolivienbeschreibung hinzugekleistert. Ich bin die Wolke da oben am Himmel, die sich mit ihrem schneeweiß so was von schön kontrastierend vom Azur der Unendlichkeit abhebt, dass es einem nichts anderes übrig bleibt, als dort oben am Himmel freilich und fröhlich herumzuschweben. Du kannst hier alles annehmen, jede Form, jede Person, jedes Wesen, und natürlich das reinste Nichts. Schwebst losgelöst von allen Begrenzungen und bist schon wieder anders als vorher, weißt nur, dass es weiß, federleicht und grenzenlos ist.

Wie oben schon angedeutet, nicht auf jeder Hauswand ist Wahlwerbung geschrieben, nur zu 99,9 Prozent. Ganz manchmal selten rar findet sich tatsächlich auch ein Sprüchlein, so was wie Jesus regiert, aber das ist ja auch Wahlwerbung. Ich meine etwas anderes, was sich krakelquer an einer Wand lesen ließ: "Los nubes son Arte del Aire" (Die Wolken sind die Kunst der Luft.) Das kann man bestimmt und einhellig so sagen, und wer die Anden schätzt, wird ihre Wolken nicht vergessen. Fliegen, fallen, auflösen, stetig wandelbar und schäfchenharmlos, aber wehe wenn das Gewitter losgeht ...

Als wir am nächsten Morgen in Uyuni aufwachen, beschert uns Wettergott Winfried den ersten wolkenfreien Tag seit Ankunft in Quito vor drei Monaten, totalblau, sonnig saftig und dennoch bei Anbruch der Dunkelheit abkühlend auf knappe zehn Grad. Dazu gab´s als Bonus die erste komplett klare Nacht mit Milchstraßen-Milky-Way (vom Sirius abwärts Richtung Kreuz des Südens), das so was von leuchtend weiß, sternenprallvoll daherkommt, dass wir es jetzt begreifen, warum der sogar in Milch schwimmt.

Eben noch Wolke, jetzt schon Stern in der Unendlichkeit, und morgen wieder nichts, verwandelnde Bilder sendet ...